Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
die zuvörderst wieder erwecket ward, ist es keine Selbst-
thätigkeit, wenn die innere Wirksamkeit auf diese Weise,
in dieser Richtung und mit dieser Stärke hervorgehet.

3.

Dritte Erfahrung. Es ist öfters eine Vorstel-
lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde
ich leidentlich zu ihr bestimmt.

Ostmals habe ich gegähnet, auch gelachet, und
weiß also, was beides ist, kann auch beides willkührlich
mittelst dieser Vorstellung wieder hervorbringen. Wenn
ich einem andern nachgähne, so geschieht solches auch
nicht anders, als dadurch, daß die Vorstellung von
dem Aktus des Gähnens erreget wird, und in Thätig-
keit übergehet.*) Wie manches Frauenzimmer kann
nicht ihre Thränenquelle fließen lassen, wenn sie will!
Aber dennoch überfällt uns auch wohl das Gähnen, das
Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan-
gene Empfindung, so daß die Anwendung der thätigen
Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden-
heit ist, und die Vorstellung leidentlich reproducirt, und
die Kraft zur Aktion leidentlich bestimmet wird. Die
Aktus selbst sind alsdenn wahre Kraftäußerungen; aber
daß unser inneres Princip sich auf diese Art äußert, und
in der Maße hervorgehet, ist keine Selbstthätigkeit;
es wird dazu eben so bestimmet, als der reizbare Mus-
kel zum Zusammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze
einer Nadel oder eines Messers reizet.

4.

Vierte Erfahrung. "Daß Vorstellungen in
"uns wieder erwecket, und gegenwärtig gemacht wer-
"den, daß sie dermalen lebhafter sind, daß sie fast bis
"an die ehemaligen Empfindungen hin sich auswickeln,

"ist
*) Zehnter Versuch. III. 3.

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
die zuvoͤrderſt wieder erwecket ward, iſt es keine Selbſt-
thaͤtigkeit, wenn die innere Wirkſamkeit auf dieſe Weiſe,
in dieſer Richtung und mit dieſer Staͤrke hervorgehet.

3.

Dritte Erfahrung. Es iſt oͤfters eine Vorſtel-
lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde
ich leidentlich zu ihr beſtimmt.

Oſtmals habe ich gegaͤhnet, auch gelachet, und
weiß alſo, was beides iſt, kann auch beides willkuͤhrlich
mittelſt dieſer Vorſtellung wieder hervorbringen. Wenn
ich einem andern nachgaͤhne, ſo geſchieht ſolches auch
nicht anders, als dadurch, daß die Vorſtellung von
dem Aktus des Gaͤhnens erreget wird, und in Thaͤtig-
keit uͤbergehet.*) Wie manches Frauenzimmer kann
nicht ihre Thraͤnenquelle fließen laſſen, wenn ſie will!
Aber dennoch uͤberfaͤllt uns auch wohl das Gaͤhnen, das
Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan-
gene Empfindung, ſo daß die Anwendung der thaͤtigen
Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden-
heit iſt, und die Vorſtellung leidentlich reproducirt, und
die Kraft zur Aktion leidentlich beſtimmet wird. Die
Aktus ſelbſt ſind alsdenn wahre Kraftaͤußerungen; aber
daß unſer inneres Princip ſich auf dieſe Art aͤußert, und
in der Maße hervorgehet, iſt keine Selbſtthaͤtigkeit;
es wird dazu eben ſo beſtimmet, als der reizbare Mus-
kel zum Zuſammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze
einer Nadel oder eines Meſſers reizet.

4.

Vierte Erfahrung. „Daß Vorſtellungen in
„uns wieder erwecket, und gegenwaͤrtig gemacht wer-
„den, daß ſie dermalen lebhafter ſind, daß ſie faſt bis
„an die ehemaligen Empfindungen hin ſich auswickeln,

„iſt
*) Zehnter Verſuch. III. 3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0106" n="76"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
die zuvo&#x0364;rder&#x017F;t wieder erwecket ward, i&#x017F;t es keine Selb&#x017F;t-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit, wenn die innere Wirk&#x017F;amkeit auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e,<lb/>
in die&#x017F;er Richtung und mit die&#x017F;er Sta&#x0364;rke hervorgehet.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>3.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Dritte Erfahrung.</hi> Es i&#x017F;t o&#x0364;fters eine Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde<lb/>
ich <hi rendition="#fr">leidentlich</hi> zu ihr be&#x017F;timmt.</p><lb/>
            <p>O&#x017F;tmals habe ich gega&#x0364;hnet, auch gelachet, und<lb/>
weiß al&#x017F;o, was beides i&#x017F;t, kann auch beides willku&#x0364;hrlich<lb/>
mittel&#x017F;t die&#x017F;er Vor&#x017F;tellung wieder hervorbringen. Wenn<lb/>
ich einem andern nachga&#x0364;hne, &#x017F;o ge&#x017F;chieht &#x017F;olches auch<lb/>
nicht anders, als dadurch, daß die Vor&#x017F;tellung von<lb/>
dem Aktus des Ga&#x0364;hnens erreget wird, und in Tha&#x0364;tig-<lb/>
keit u&#x0364;bergehet.<note place="foot" n="*)">Zehnter Ver&#x017F;uch. <hi rendition="#aq">III.</hi> 3.</note> Wie manches Frauenzimmer kann<lb/>
nicht ihre Thra&#x0364;nenquelle fließen la&#x017F;&#x017F;en, wenn &#x017F;ie will!<lb/>
Aber dennoch u&#x0364;berfa&#x0364;llt uns auch wohl das Ga&#x0364;hnen, das<lb/>
Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan-<lb/>
gene Empfindung, &#x017F;o daß die Anwendung der tha&#x0364;tigen<lb/>
Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden-<lb/>
heit i&#x017F;t, und die Vor&#x017F;tellung leidentlich reproducirt, und<lb/>
die Kraft zur Aktion leidentlich be&#x017F;timmet wird. Die<lb/>
Aktus &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind alsdenn wahre Krafta&#x0364;ußerungen; aber<lb/>
daß un&#x017F;er inneres Princip &#x017F;ich auf die&#x017F;e Art a&#x0364;ußert, und<lb/>
in der Maße hervorgehet, i&#x017F;t keine Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit;<lb/>
es wird dazu eben &#x017F;o be&#x017F;timmet, als der reizbare Mus-<lb/>
kel zum Zu&#x017F;ammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze<lb/>
einer Nadel oder eines Me&#x017F;&#x017F;ers reizet.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>4.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#fr">Vierte Erfahrung.</hi> &#x201E;Daß Vor&#x017F;tellungen in<lb/>
&#x201E;uns wieder erwecket, und gegenwa&#x0364;rtig gemacht wer-<lb/>
&#x201E;den, daß &#x017F;ie dermalen lebhafter &#x017F;ind, daß &#x017F;ie fa&#x017F;t bis<lb/>
&#x201E;an die ehemaligen Empfindungen hin &#x017F;ich auswickeln,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;i&#x017F;t</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0106] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit die zuvoͤrderſt wieder erwecket ward, iſt es keine Selbſt- thaͤtigkeit, wenn die innere Wirkſamkeit auf dieſe Weiſe, in dieſer Richtung und mit dieſer Staͤrke hervorgehet. 3. Dritte Erfahrung. Es iſt oͤfters eine Vorſtel- lung von einer Handlung in mir, und dennoch werde ich leidentlich zu ihr beſtimmt. Oſtmals habe ich gegaͤhnet, auch gelachet, und weiß alſo, was beides iſt, kann auch beides willkuͤhrlich mittelſt dieſer Vorſtellung wieder hervorbringen. Wenn ich einem andern nachgaͤhne, ſo geſchieht ſolches auch nicht anders, als dadurch, daß die Vorſtellung von dem Aktus des Gaͤhnens erreget wird, und in Thaͤtig- keit uͤbergehet. *) Wie manches Frauenzimmer kann nicht ihre Thraͤnenquelle fließen laſſen, wenn ſie will! Aber dennoch uͤberfaͤllt uns auch wohl das Gaͤhnen, das Lachen, das Weinen, unmittelbar auf eine vorhergegan- gene Empfindung, ſo daß die Anwendung der thaͤtigen Seelenkraft, die hiezu erfodert wird, eine pure Leiden- heit iſt, und die Vorſtellung leidentlich reproducirt, und die Kraft zur Aktion leidentlich beſtimmet wird. Die Aktus ſelbſt ſind alsdenn wahre Kraftaͤußerungen; aber daß unſer inneres Princip ſich auf dieſe Art aͤußert, und in der Maße hervorgehet, iſt keine Selbſtthaͤtigkeit; es wird dazu eben ſo beſtimmet, als der reizbare Mus- kel zum Zuſammenziehen, wenn man ihn mit der Spitze einer Nadel oder eines Meſſers reizet. 4. Vierte Erfahrung. „Daß Vorſtellungen in „uns wieder erwecket, und gegenwaͤrtig gemacht wer- „den, daß ſie dermalen lebhafter ſind, daß ſie faſt bis „an die ehemaligen Empfindungen hin ſich auswickeln, „iſt *) Zehnter Verſuch. III. 3.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/106
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/106>, abgerufen am 30.04.2024.