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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
6.

Dieß ist schon genug, um den großen Unterschied
zwischen dem Bestimmetwerden, und zwischen dem
Selbst sich bestimmen merkbar zu machen. Jch
gehe auf dem Felde; unvermuthet entsteht hinter mir
ein erschütterndes Geräusch; ich fahre zusammen, und
sehe mich um, ehe ich mich noch besinne. Hier wer-
de
ich, größtentheils wenigstens, leidend bestimmt.

Jch sitze jetzo auf meinem Stuhle, und fühle eine
Unbequemlichkeit. Es fällt mir ein, aufzustehen, und
die Füße zu bewegen: ich bedenke mich aber noch, weil
ich eben mitten in einer Reflexion begriffen bin, die ich
gerne ganz aufs Papier bringen möchte; indessen wähle
ich doch das erstere, stehe ohne Uebereilung ganz kalt-
blütig auf. Das Gefühl sagt, daß ich mich hiebey
selbst bestimme.

Von Empfindung oder Gefühl fängt die
Aktion an.
Jn dem ersten Fall reizet das Gefühl,
und es erfolget unmittelbar eine Bestimmung der Kraft.
Das Gefühl bestehet, oder dauert etwas fort, und es
erfolgen also mehrere Bestimmungen der Kraft von ei-
nerley Art. Jhre Folge auf einander macht die ganze
Aktion aus, die aber als Seelenaktion unterbrochen ist,
obgleich zuweilen auch in Eins fort zu gehen scheinet.
Sie kommt uns in diesen Fällen als so etwas Passives
vor, wie jede andere leidentliche Empfindung.

Jn dem zwoten Fall fängt sich die Aktion auch mit
einem Gefühl an. Dieß erwecket eine Jdee und macht
meine Aufmerksamkeit rege. Bis dahin geht ihre un-
mittelbare
Wirkung, und bis dahin werde ich be-
stimmt. Aber es erfolget noch eine weitere Anwendung
meiner Kraft, bey der sich die neue Aktion anfängt.

Wie wenn diese, auf welche Art sie auch hinzu-
kommt, durchaus eine Selbstthätigkeit ist; wenn die

erfolgende
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
6.

Dieß iſt ſchon genug, um den großen Unterſchied
zwiſchen dem Beſtimmetwerden, und zwiſchen dem
Selbſt ſich beſtimmen merkbar zu machen. Jch
gehe auf dem Felde; unvermuthet entſteht hinter mir
ein erſchuͤtterndes Geraͤuſch; ich fahre zuſammen, und
ſehe mich um, ehe ich mich noch beſinne. Hier wer-
de
ich, groͤßtentheils wenigſtens, leidend beſtimmt.

Jch ſitze jetzo auf meinem Stuhle, und fuͤhle eine
Unbequemlichkeit. Es faͤllt mir ein, aufzuſtehen, und
die Fuͤße zu bewegen: ich bedenke mich aber noch, weil
ich eben mitten in einer Reflexion begriffen bin, die ich
gerne ganz aufs Papier bringen moͤchte; indeſſen waͤhle
ich doch das erſtere, ſtehe ohne Uebereilung ganz kalt-
bluͤtig auf. Das Gefuͤhl ſagt, daß ich mich hiebey
ſelbſt beſtimme.

Von Empfindung oder Gefuͤhl faͤngt die
Aktion an.
Jn dem erſten Fall reizet das Gefuͤhl,
und es erfolget unmittelbar eine Beſtimmung der Kraft.
Das Gefuͤhl beſtehet, oder dauert etwas fort, und es
erfolgen alſo mehrere Beſtimmungen der Kraft von ei-
nerley Art. Jhre Folge auf einander macht die ganze
Aktion aus, die aber als Seelenaktion unterbrochen iſt,
obgleich zuweilen auch in Eins fort zu gehen ſcheinet.
Sie kommt uns in dieſen Faͤllen als ſo etwas Paſſives
vor, wie jede andere leidentliche Empfindung.

Jn dem zwoten Fall faͤngt ſich die Aktion auch mit
einem Gefuͤhl an. Dieß erwecket eine Jdee und macht
meine Aufmerkſamkeit rege. Bis dahin geht ihre un-
mittelbare
Wirkung, und bis dahin werde ich be-
ſtimmt. Aber es erfolget noch eine weitere Anwendung
meiner Kraft, bey der ſich die neue Aktion anfaͤngt.

Wie wenn dieſe, auf welche Art ſie auch hinzu-
kommt, durchaus eine Selbſtthaͤtigkeit iſt; wenn die

erfolgende
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[82/0112] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit 6. Dieß iſt ſchon genug, um den großen Unterſchied zwiſchen dem Beſtimmetwerden, und zwiſchen dem Selbſt ſich beſtimmen merkbar zu machen. Jch gehe auf dem Felde; unvermuthet entſteht hinter mir ein erſchuͤtterndes Geraͤuſch; ich fahre zuſammen, und ſehe mich um, ehe ich mich noch beſinne. Hier wer- de ich, groͤßtentheils wenigſtens, leidend beſtimmt. Jch ſitze jetzo auf meinem Stuhle, und fuͤhle eine Unbequemlichkeit. Es faͤllt mir ein, aufzuſtehen, und die Fuͤße zu bewegen: ich bedenke mich aber noch, weil ich eben mitten in einer Reflexion begriffen bin, die ich gerne ganz aufs Papier bringen moͤchte; indeſſen waͤhle ich doch das erſtere, ſtehe ohne Uebereilung ganz kalt- bluͤtig auf. Das Gefuͤhl ſagt, daß ich mich hiebey ſelbſt beſtimme. Von Empfindung oder Gefuͤhl faͤngt die Aktion an. Jn dem erſten Fall reizet das Gefuͤhl, und es erfolget unmittelbar eine Beſtimmung der Kraft. Das Gefuͤhl beſtehet, oder dauert etwas fort, und es erfolgen alſo mehrere Beſtimmungen der Kraft von ei- nerley Art. Jhre Folge auf einander macht die ganze Aktion aus, die aber als Seelenaktion unterbrochen iſt, obgleich zuweilen auch in Eins fort zu gehen ſcheinet. Sie kommt uns in dieſen Faͤllen als ſo etwas Paſſives vor, wie jede andere leidentliche Empfindung. Jn dem zwoten Fall faͤngt ſich die Aktion auch mit einem Gefuͤhl an. Dieß erwecket eine Jdee und macht meine Aufmerkſamkeit rege. Bis dahin geht ihre un- mittelbare Wirkung, und bis dahin werde ich be- ſtimmt. Aber es erfolget noch eine weitere Anwendung meiner Kraft, bey der ſich die neue Aktion anfaͤngt. Wie wenn dieſe, auf welche Art ſie auch hinzu- kommt, durchaus eine Selbſtthaͤtigkeit iſt; wenn die erfolgende

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/112>, abgerufen am 30.04.2024.