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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
chen entstehen. Wie diese gehoben werden
können.

4) Merkwürdiger Unterschied zwischen will-
kürlichen
Vorstellungen, deren Gegen-
wart von einem selbstthätigen Bestreben
der Seele
abhängt, und zwischen unwill-
kürlichen,
die sich uns von selbst darzu-
stellen scheinen.

5) Einwurf, der aus dieser Verschiedenheit
entspringet, gegen die Meinung, daß die
Wiedervorstellungskraft allein der Seele
zukomme. Wie sich hierauf antworten
lasse.

1.

Die erste der gedachten Hypothesen ist die gewöhnlich-
ste, die man in den Lehrbüchern der ältern Philo-
sophen als eine nicht zweifelhafte Voraussetzung an-
trifft; oder wenigstens kommt ihr die gewöhnlichste am
nächsten, zumal wenn man auf die Anwendung sieht,
die gemeiniglich von ihr gemacht wird. Jn der Seele
soll das Gedächtniß und der aufbewahrte Vorrath von
Vorstellungen, Jdeen und Gedanken; dagegen in dem Ge-
hirn nichts dahin gehöriges seyn, wenn die Empfindung
vorüber ist, und die Vorstellung aufgehöret gegenwär-
tig uns vorzuschweben. Da das Gehirn weich, und
der Nervensaft flüßig ist, so kann hier vielleicht so wenig
eine Spur von der vorhergegangenen sinnlichen Bewe-
gung zurückgeblieben seyn, als in dem Wasser die Stelle
kenntlich ist, wo ein Stein hineingeworfen ist, sobald
die wallende Bewegung auf der Fläche sich wiederum
verloren hat, die keine Minute bestehet.

Wir

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
chen entſtehen. Wie dieſe gehoben werden
koͤnnen.

4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen will-
kuͤrlichen
Vorſtellungen, deren Gegen-
wart von einem ſelbſtthaͤtigen Beſtreben
der Seele
abhaͤngt, und zwiſchen unwill-
kuͤrlichen,
die ſich uns von ſelbſt darzu-
ſtellen ſcheinen.

5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit
entſpringet, gegen die Meinung, daß die
Wiedervorſtellungskraft allein der Seele
zukomme. Wie ſich hierauf antworten
laſſe.

1.

Die erſte der gedachten Hypotheſen iſt die gewoͤhnlich-
ſte, die man in den Lehrbuͤchern der aͤltern Philo-
ſophen als eine nicht zweifelhafte Vorausſetzung an-
trifft; oder wenigſtens kommt ihr die gewoͤhnlichſte am
naͤchſten, zumal wenn man auf die Anwendung ſieht,
die gemeiniglich von ihr gemacht wird. Jn der Seele
ſoll das Gedaͤchtniß und der aufbewahrte Vorrath von
Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; dagegen in dem Ge-
hirn nichts dahin gehoͤriges ſeyn, wenn die Empfindung
voruͤber iſt, und die Vorſtellung aufgehoͤret gegenwaͤr-
tig uns vorzuſchweben. Da das Gehirn weich, und
der Nervenſaft fluͤßig iſt, ſo kann hier vielleicht ſo wenig
eine Spur von der vorhergegangenen ſinnlichen Bewe-
gung zuruͤckgeblieben ſeyn, als in dem Waſſer die Stelle
kenntlich iſt, wo ein Stein hineingeworfen iſt, ſobald
die wallende Bewegung auf der Flaͤche ſich wiederum
verloren hat, die keine Minute beſtehet.

Wir
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[224/0254] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen chen entſtehen. Wie dieſe gehoben werden koͤnnen. 4) Merkwuͤrdiger Unterſchied zwiſchen will- kuͤrlichen Vorſtellungen, deren Gegen- wart von einem ſelbſtthaͤtigen Beſtreben der Seele abhaͤngt, und zwiſchen unwill- kuͤrlichen, die ſich uns von ſelbſt darzu- ſtellen ſcheinen. 5) Einwurf, der aus dieſer Verſchiedenheit entſpringet, gegen die Meinung, daß die Wiedervorſtellungskraft allein der Seele zukomme. Wie ſich hierauf antworten laſſe. 1. Die erſte der gedachten Hypotheſen iſt die gewoͤhnlich- ſte, die man in den Lehrbuͤchern der aͤltern Philo- ſophen als eine nicht zweifelhafte Vorausſetzung an- trifft; oder wenigſtens kommt ihr die gewoͤhnlichſte am naͤchſten, zumal wenn man auf die Anwendung ſieht, die gemeiniglich von ihr gemacht wird. Jn der Seele ſoll das Gedaͤchtniß und der aufbewahrte Vorrath von Vorſtellungen, Jdeen und Gedanken; dagegen in dem Ge- hirn nichts dahin gehoͤriges ſeyn, wenn die Empfindung voruͤber iſt, und die Vorſtellung aufgehoͤret gegenwaͤr- tig uns vorzuſchweben. Da das Gehirn weich, und der Nervenſaft fluͤßig iſt, ſo kann hier vielleicht ſo wenig eine Spur von der vorhergegangenen ſinnlichen Bewe- gung zuruͤckgeblieben ſeyn, als in dem Waſſer die Stelle kenntlich iſt, wo ein Stein hineingeworfen iſt, ſobald die wallende Bewegung auf der Flaͤche ſich wiederum verloren hat, die keine Minute beſtehet. Wir

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/254>, abgerufen am 30.04.2024.