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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
Wenn nun auch das Gehirn, nach diesem Gesetz, im
Alter ungeschmeidiger geworden ist neue Eindrücke
anzunehmen, soll es denn gelenksamer geworden seyn,
in die lange vorher empfangenen Bewegungen wieder
überzugehen, da es doch vorher schon einmal in den mitt-
lern Jahren zu ihrer Erneurung unfähig gewesen ist?
Mich deucht, man möge das Gedächtniß in der Seele,
oder in den Organen setzen; so bald man deutlich
begreifen will, auf welche Art es dort oder hier sich be-
finde, um so besondere Wirkungen hervorzubringen:
so sind die Schwierigkeiten eben so groß bey der Einen,
als bey der andern Voraussetzung.

7.

Das Kindischwerden der Menschen in dem
höchsten Alter ist ein Phänomenon, das vorzüglich, und
noch vielleicht mehr als der Verlust des Verstandes, für
die Wahrscheinlichkeit der bonnetischen Gehirnskraft
zu streiten scheinet. Es sind beyde Zufälle sehr demü-
thigend für den Menschen, aber lehrreich für den von
seinem Jch und dessen Unabhängigkeit zu hoch denken-
den Stoiker, der seine Tugend den Göttern nicht ver-
danken wollte. Mir ist das Beyspiel eines berühmten
Mathematikers bekannt, der diese Wiederkehr der Kind-
heit erlebte. Die Erinnerung der vorigen Jdeen fehlte
so sehr, daß, wenn er zuweilen in seiner Einsamkeit
für sich auf eine Demonstration von einem der ersten
Sätze im Euklides verfallen war: -- denn der Hang zur
Beschäftigung mit geometrischen Figuren und Begrif-
fen war ihm noch übrig geblieben, ein eigener merk-
würdiger Umstand! -- so zeigte er solche seinem Sohn,
als eine Wirkung seiner Erfindungskraft, mit einer
freudigen Selbstzufriedenheit, die einem Kinde von zehn
Jahren natürlich gewesen seyn würde, hier aber seinem
Sohn, der aus seines Vaters Schriften so viele mathe-

matische

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Wenn nun auch das Gehirn, nach dieſem Geſetz, im
Alter ungeſchmeidiger geworden iſt neue Eindruͤcke
anzunehmen, ſoll es denn gelenkſamer geworden ſeyn,
in die lange vorher empfangenen Bewegungen wieder
uͤberzugehen, da es doch vorher ſchon einmal in den mitt-
lern Jahren zu ihrer Erneurung unfaͤhig geweſen iſt?
Mich deucht, man moͤge das Gedaͤchtniß in der Seele,
oder in den Organen ſetzen; ſo bald man deutlich
begreifen will, auf welche Art es dort oder hier ſich be-
finde, um ſo beſondere Wirkungen hervorzubringen:
ſo ſind die Schwierigkeiten eben ſo groß bey der Einen,
als bey der andern Vorausſetzung.

7.

Das Kindiſchwerden der Menſchen in dem
hoͤchſten Alter iſt ein Phaͤnomenon, das vorzuͤglich, und
noch vielleicht mehr als der Verluſt des Verſtandes, fuͤr
die Wahrſcheinlichkeit der bonnetiſchen Gehirnskraft
zu ſtreiten ſcheinet. Es ſind beyde Zufaͤlle ſehr demuͤ-
thigend fuͤr den Menſchen, aber lehrreich fuͤr den von
ſeinem Jch und deſſen Unabhaͤngigkeit zu hoch denken-
den Stoiker, der ſeine Tugend den Goͤttern nicht ver-
danken wollte. Mir iſt das Beyſpiel eines beruͤhmten
Mathematikers bekannt, der dieſe Wiederkehr der Kind-
heit erlebte. Die Erinnerung der vorigen Jdeen fehlte
ſo ſehr, daß, wenn er zuweilen in ſeiner Einſamkeit
fuͤr ſich auf eine Demonſtration von einem der erſten
Saͤtze im Euklides verfallen war: — denn der Hang zur
Beſchaͤftigung mit geometriſchen Figuren und Begrif-
fen war ihm noch uͤbrig geblieben, ein eigener merk-
wuͤrdiger Umſtand! — ſo zeigte er ſolche ſeinem Sohn,
als eine Wirkung ſeiner Erfindungskraft, mit einer
freudigen Selbſtzufriedenheit, die einem Kinde von zehn
Jahren natuͤrlich geweſen ſeyn wuͤrde, hier aber ſeinem
Sohn, der aus ſeines Vaters Schriften ſo viele mathe-

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[268/0298] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen Wenn nun auch das Gehirn, nach dieſem Geſetz, im Alter ungeſchmeidiger geworden iſt neue Eindruͤcke anzunehmen, ſoll es denn gelenkſamer geworden ſeyn, in die lange vorher empfangenen Bewegungen wieder uͤberzugehen, da es doch vorher ſchon einmal in den mitt- lern Jahren zu ihrer Erneurung unfaͤhig geweſen iſt? Mich deucht, man moͤge das Gedaͤchtniß in der Seele, oder in den Organen ſetzen; ſo bald man deutlich begreifen will, auf welche Art es dort oder hier ſich be- finde, um ſo beſondere Wirkungen hervorzubringen: ſo ſind die Schwierigkeiten eben ſo groß bey der Einen, als bey der andern Vorausſetzung. 7. Das Kindiſchwerden der Menſchen in dem hoͤchſten Alter iſt ein Phaͤnomenon, das vorzuͤglich, und noch vielleicht mehr als der Verluſt des Verſtandes, fuͤr die Wahrſcheinlichkeit der bonnetiſchen Gehirnskraft zu ſtreiten ſcheinet. Es ſind beyde Zufaͤlle ſehr demuͤ- thigend fuͤr den Menſchen, aber lehrreich fuͤr den von ſeinem Jch und deſſen Unabhaͤngigkeit zu hoch denken- den Stoiker, der ſeine Tugend den Goͤttern nicht ver- danken wollte. Mir iſt das Beyſpiel eines beruͤhmten Mathematikers bekannt, der dieſe Wiederkehr der Kind- heit erlebte. Die Erinnerung der vorigen Jdeen fehlte ſo ſehr, daß, wenn er zuweilen in ſeiner Einſamkeit fuͤr ſich auf eine Demonſtration von einem der erſten Saͤtze im Euklides verfallen war: — denn der Hang zur Beſchaͤftigung mit geometriſchen Figuren und Begrif- fen war ihm noch uͤbrig geblieben, ein eigener merk- wuͤrdiger Umſtand! — ſo zeigte er ſolche ſeinem Sohn, als eine Wirkung ſeiner Erfindungskraft, mit einer freudigen Selbſtzufriedenheit, die einem Kinde von zehn Jahren natuͤrlich geweſen ſeyn wuͤrde, hier aber ſeinem Sohn, der aus ſeines Vaters Schriften ſo viele mathe- matiſche

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/298>, abgerufen am 30.04.2024.