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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
Der erstern der obgedachten Erklärungsarten stehet die
große Abhängigkeit der Vorstellungen von der Organi-
sation im Wege; dieser nicht. Mit der letztern von
jenen läßt sich die Selbstmacht unsers Jchs über die
Vorstellungen und das Selbstbestreben, wenn wir uns
auf etwas mit Fleiß besinnen, nicht ohne Mühe verei-
nigen; bey dieser mittlern Hypothese ist solches eine
nothwendige Folge. Aber dennoch scheinen die unwill-
kürlichen Reproduktionen (VI. 4.), die oft wider das
Bestreben der Seele vor sich gehen, ihr noch im Wege
zu stehen. Sie können zwar mit ihr vereinigt werden,
aber es ist keine so nothwendige Folge von ihr, daß der-
gleichen Beobachtungen da seyn müßten. Jn diesen,
unwillkürlich sich aus dem Gehirn her associirenden Vor-
stellungen liegt der vornehmste Grund der Wahrschein-
lichkeit für den Grundsatz in der mechanischen Psycholo-
gie, daß die materiellen Jdeen im Gehirn sich einander
erneuern, und zwar ohne Dazwischenkunft der Seele,
welches bey dieser letztern Hypothese wegfallen müßte.

4.

Kann man es als wahrscheinlich ansehen, daß die
materiellen Jdeen im Gehirn einander unmit-
telbar
erregen, und sich oft dem Bestreben der Seele
entgegen ihr aufdringen, wenn das Geblüt in Wal-
lung ist und zum Gehirn dränget: so deucht mich, es
sey in demselbigen Grade wahrscheinlich, daß auch in
der Seele
die intellektuellen Modifikationen sich
einander unmittelbar erwecken, und oftmals das Ge-
hirn, auch wenn es nicht zum besten dazu aufgelegt ist,
in die zugehörigen sinnlichen Bewegungen versetzen. So
viele Erfahrungen von dem Einflusse körperlicher Ursa-
chen in den Schwung der Phantasie das erstere glaub-
lich machen; eben so viele Erfahrungen hat man von dem
Einflusse der selbstthätigen Bestimmung unsers Jchs

auf
T 3

im Menſchen.
Der erſtern der obgedachten Erklaͤrungsarten ſtehet die
große Abhaͤngigkeit der Vorſtellungen von der Organi-
ſation im Wege; dieſer nicht. Mit der letztern von
jenen laͤßt ſich die Selbſtmacht unſers Jchs uͤber die
Vorſtellungen und das Selbſtbeſtreben, wenn wir uns
auf etwas mit Fleiß beſinnen, nicht ohne Muͤhe verei-
nigen; bey dieſer mittlern Hypotheſe iſt ſolches eine
nothwendige Folge. Aber dennoch ſcheinen die unwill-
kuͤrlichen Reproduktionen (VI. 4.), die oft wider das
Beſtreben der Seele vor ſich gehen, ihr noch im Wege
zu ſtehen. Sie koͤnnen zwar mit ihr vereinigt werden,
aber es iſt keine ſo nothwendige Folge von ihr, daß der-
gleichen Beobachtungen da ſeyn muͤßten. Jn dieſen,
unwillkuͤrlich ſich aus dem Gehirn her aſſociirenden Vor-
ſtellungen liegt der vornehmſte Grund der Wahrſchein-
lichkeit fuͤr den Grundſatz in der mechaniſchen Pſycholo-
gie, daß die materiellen Jdeen im Gehirn ſich einander
erneuern, und zwar ohne Dazwiſchenkunft der Seele,
welches bey dieſer letztern Hypotheſe wegfallen muͤßte.

4.

Kann man es als wahrſcheinlich anſehen, daß die
materiellen Jdeen im Gehirn einander unmit-
telbar
erregen, und ſich oft dem Beſtreben der Seele
entgegen ihr aufdringen, wenn das Gebluͤt in Wal-
lung iſt und zum Gehirn draͤnget: ſo deucht mich, es
ſey in demſelbigen Grade wahrſcheinlich, daß auch in
der Seele
die intellektuellen Modifikationen ſich
einander unmittelbar erwecken, und oftmals das Ge-
hirn, auch wenn es nicht zum beſten dazu aufgelegt iſt,
in die zugehoͤrigen ſinnlichen Bewegungen verſetzen. So
viele Erfahrungen von dem Einfluſſe koͤrperlicher Urſa-
chen in den Schwung der Phantaſie das erſtere glaub-
lich machen; eben ſo viele Erfahrungen hat man von dem
Einfluſſe der ſelbſtthaͤtigen Beſtimmung unſers Jchs

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T 3
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[293/0323] im Menſchen. Der erſtern der obgedachten Erklaͤrungsarten ſtehet die große Abhaͤngigkeit der Vorſtellungen von der Organi- ſation im Wege; dieſer nicht. Mit der letztern von jenen laͤßt ſich die Selbſtmacht unſers Jchs uͤber die Vorſtellungen und das Selbſtbeſtreben, wenn wir uns auf etwas mit Fleiß beſinnen, nicht ohne Muͤhe verei- nigen; bey dieſer mittlern Hypotheſe iſt ſolches eine nothwendige Folge. Aber dennoch ſcheinen die unwill- kuͤrlichen Reproduktionen (VI. 4.), die oft wider das Beſtreben der Seele vor ſich gehen, ihr noch im Wege zu ſtehen. Sie koͤnnen zwar mit ihr vereinigt werden, aber es iſt keine ſo nothwendige Folge von ihr, daß der- gleichen Beobachtungen da ſeyn muͤßten. Jn dieſen, unwillkuͤrlich ſich aus dem Gehirn her aſſociirenden Vor- ſtellungen liegt der vornehmſte Grund der Wahrſchein- lichkeit fuͤr den Grundſatz in der mechaniſchen Pſycholo- gie, daß die materiellen Jdeen im Gehirn ſich einander erneuern, und zwar ohne Dazwiſchenkunft der Seele, welches bey dieſer letztern Hypotheſe wegfallen muͤßte. 4. Kann man es als wahrſcheinlich anſehen, daß die materiellen Jdeen im Gehirn einander unmit- telbar erregen, und ſich oft dem Beſtreben der Seele entgegen ihr aufdringen, wenn das Gebluͤt in Wal- lung iſt und zum Gehirn draͤnget: ſo deucht mich, es ſey in demſelbigen Grade wahrſcheinlich, daß auch in der Seele die intellektuellen Modifikationen ſich einander unmittelbar erwecken, und oftmals das Ge- hirn, auch wenn es nicht zum beſten dazu aufgelegt iſt, in die zugehoͤrigen ſinnlichen Bewegungen verſetzen. So viele Erfahrungen von dem Einfluſſe koͤrperlicher Urſa- chen in den Schwung der Phantaſie das erſtere glaub- lich machen; eben ſo viele Erfahrungen hat man von dem Einfluſſe der ſelbſtthaͤtigen Beſtimmung unſers Jchs auf T 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/323>, abgerufen am 30.04.2024.