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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden.
Von dem vorzüglichen Nutzen, den das Le-
sen der Originalschriftsteller hat. Von
dem Nutzen der Metaphysik, als einer Ue-
bung der Verstandskräfte.

6) Wie weit die Erhöhung eines Seelenver-
mögens sich über andere Vermögen aus-
breite!

7) Von der Schwächung der Vermögen durch
allzu starke Anstrengung.

1.

Die thätigen Seelenvermögen, die alsdenn beson-
ders Fähigkeiten heißen, wenn sie vorzüglich
groß sind, werden durch eine angemessene Uebung erhö-
het und zu Fertigkeiten gemacht. Man kann die in-
stinktartigen Handlungen, wozu uns die Fertigkeiten an-
gedohren zu seyn scheinen, hier bey Seite setzen. Der
Philosoph, der Mathematiker, der Schachspieler, der
Maler und so weiter, wird das, was er ist, nicht ohne
vorhergegangene Uebung. Von den Poeten und an-
dern Künstlern, und überhaupt von solchen Fertigkeiten,
die auf einer vorzüglichen Wirksamkeit der Phantasie be-
ruhen, ist man gemeiniglich der Meinung, sie müßten
geboren, nicht gemacht werden. Aber man hat läng-
stens bemerkt, daß sich dasselbige von allen Arten der
vorzugsweise sogenannten Genies, und auch von den
philosophischen und mathematischen Genies, behaupten
lasse. Die Leibnitze, die Newtons, die Euler, die
Bernoullis müssen eben sowohl geboren werden, als
die Homere und Virgile. Und es ist eben so gewiß,
daß die lebhafte Phantasie ohne hinzukommende An-
strengung und Uebung keinen ausgebildeten großen Poe-
ten mache, als eine angeborne vorzügliche Ueberlegungs-

kraft

und Entwickelung des Menſchen.
5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden.
Von dem vorzuͤglichen Nutzen, den das Le-
ſen der Originalſchriftſteller hat. Von
dem Nutzen der Metaphyſik, als einer Ue-
bung der Verſtandskraͤfte.

6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenver-
moͤgens ſich uͤber andere Vermoͤgen aus-
breite!

7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch
allzu ſtarke Anſtrengung.

1.

Die thaͤtigen Seelenvermoͤgen, die alsdenn beſon-
ders Faͤhigkeiten heißen, wenn ſie vorzuͤglich
groß ſind, werden durch eine angemeſſene Uebung erhoͤ-
het und zu Fertigkeiten gemacht. Man kann die in-
ſtinktartigen Handlungen, wozu uns die Fertigkeiten an-
gedohren zu ſeyn ſcheinen, hier bey Seite ſetzen. Der
Philoſoph, der Mathematiker, der Schachſpieler, der
Maler und ſo weiter, wird das, was er iſt, nicht ohne
vorhergegangene Uebung. Von den Poeten und an-
dern Kuͤnſtlern, und uͤberhaupt von ſolchen Fertigkeiten,
die auf einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit der Phantaſie be-
ruhen, iſt man gemeiniglich der Meinung, ſie muͤßten
geboren, nicht gemacht werden. Aber man hat laͤng-
ſtens bemerkt, daß ſich daſſelbige von allen Arten der
vorzugsweiſe ſogenannten Genies, und auch von den
philoſophiſchen und mathematiſchen Genies, behaupten
laſſe. Die Leibnitze, die Newtons, die Euler, die
Bernoullis muͤſſen eben ſowohl geboren werden, als
die Homere und Virgile. Und es iſt eben ſo gewiß,
daß die lebhafte Phantaſie ohne hinzukommende An-
ſtrengung und Uebung keinen ausgebildeten großen Poe-
ten mache, als eine angeborne vorzuͤgliche Ueberlegungs-

kraft
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[379/0409] und Entwickelung des Menſchen. 5) Zwo Folgen aus dem Vorhergehenden. Von dem vorzuͤglichen Nutzen, den das Le- ſen der Originalſchriftſteller hat. Von dem Nutzen der Metaphyſik, als einer Ue- bung der Verſtandskraͤfte. 6) Wie weit die Erhoͤhung eines Seelenver- moͤgens ſich uͤber andere Vermoͤgen aus- breite! 7) Von der Schwaͤchung der Vermoͤgen durch allzu ſtarke Anſtrengung. 1. Die thaͤtigen Seelenvermoͤgen, die alsdenn beſon- ders Faͤhigkeiten heißen, wenn ſie vorzuͤglich groß ſind, werden durch eine angemeſſene Uebung erhoͤ- het und zu Fertigkeiten gemacht. Man kann die in- ſtinktartigen Handlungen, wozu uns die Fertigkeiten an- gedohren zu ſeyn ſcheinen, hier bey Seite ſetzen. Der Philoſoph, der Mathematiker, der Schachſpieler, der Maler und ſo weiter, wird das, was er iſt, nicht ohne vorhergegangene Uebung. Von den Poeten und an- dern Kuͤnſtlern, und uͤberhaupt von ſolchen Fertigkeiten, die auf einer vorzuͤglichen Wirkſamkeit der Phantaſie be- ruhen, iſt man gemeiniglich der Meinung, ſie muͤßten geboren, nicht gemacht werden. Aber man hat laͤng- ſtens bemerkt, daß ſich daſſelbige von allen Arten der vorzugsweiſe ſogenannten Genies, und auch von den philoſophiſchen und mathematiſchen Genies, behaupten laſſe. Die Leibnitze, die Newtons, die Euler, die Bernoullis muͤſſen eben ſowohl geboren werden, als die Homere und Virgile. Und es iſt eben ſo gewiß, daß die lebhafte Phantaſie ohne hinzukommende An- ſtrengung und Uebung keinen ausgebildeten großen Poe- ten mache, als eine angeborne vorzuͤgliche Ueberlegungs- kraft

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/409>, abgerufen am 30.04.2024.