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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
4) Die Verfeinerung einer Seite unserer lei-
denden Vermögen verbreitet sich über alle.

1.

Da jede einzeln beobachtbare Kraftäußerung der
Seele aus einem Thun und Leiden zusammenge-
setzt ist, und alle geistige Vollkommenheiten des Men-
schen eine gewisse Stärke seiner thätigen und leidenden
Vermögen in sich halten: so erfodert eine deutliche Vor-
stellung von der Entwickelung der Seele, daß man die-
se auch von ihrer zwoten Seite kennen lerne, und sehe,
ob und wie ferne die passiven Vermögen etwas anzu-
nehmen und sich modificiren zu lassen, das ist, die Re-
ceptivität der Seele, einer Erhöhung und Vergrößerung
fähig seyn. Hiebey könnte vielleicht die obige Erläute-
rung aus dem Search über die Verbesserung des Ver-
standes, die er von dem Gesichte hernahm, anpassen-
sender scheinen, daß nämlich unsere natürliche Vermö-
gen unverändert bleiben wie sie sind, und nur die Mit-
tel und Gegenstände, wodurch und worauf sie sich äus-
sern, vervielfältiget und vermehret werden. Aber auch
hier ist diese Vorstellung nicht völlig richtig, wenn wir
nur genauer erwegen, was wirklich geschieht. So gar
die äußern Sinnglieder, besonders die Augen und Oh-
ren, werden durch die Uebung gewissermaßen gestärket
und vollkommener gemacht. Das Auge bleibet doch
nicht ganz unverändert, wie es uns angeboren ist.
Selbst die Uebung, die von der bloßen Natur veranlas-
set wird, bessert das Organ bey dem Gebrauch. Das
Auge wächst nicht allein in der Kindheit, sondern be-
kommt auch eine etwas andere Figur, und wird geschick-
ter die Bilder von den Gegenständen aufzunehmen. *)

Und
*) Haller Elem. physiol. T. V. Lib. XVI. sect. II. §. 7.
12. 15.

und Entwickelung des Menſchen.
4) Die Verfeinerung einer Seite unſerer lei-
denden Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber alle.

1.

Da jede einzeln beobachtbare Kraftaͤußerung der
Seele aus einem Thun und Leiden zuſammenge-
ſetzt iſt, und alle geiſtige Vollkommenheiten des Men-
ſchen eine gewiſſe Staͤrke ſeiner thaͤtigen und leidenden
Vermoͤgen in ſich halten: ſo erfodert eine deutliche Vor-
ſtellung von der Entwickelung der Seele, daß man die-
ſe auch von ihrer zwoten Seite kennen lerne, und ſehe,
ob und wie ferne die paſſiven Vermoͤgen etwas anzu-
nehmen und ſich modificiren zu laſſen, das iſt, die Re-
ceptivitaͤt der Seele, einer Erhoͤhung und Vergroͤßerung
faͤhig ſeyn. Hiebey koͤnnte vielleicht die obige Erlaͤute-
rung aus dem Search uͤber die Verbeſſerung des Ver-
ſtandes, die er von dem Geſichte hernahm, anpaſſen-
ſender ſcheinen, daß naͤmlich unſere natuͤrliche Vermoͤ-
gen unveraͤndert bleiben wie ſie ſind, und nur die Mit-
tel und Gegenſtaͤnde, wodurch und worauf ſie ſich aͤuſ-
ſern, vervielfaͤltiget und vermehret werden. Aber auch
hier iſt dieſe Vorſtellung nicht voͤllig richtig, wenn wir
nur genauer erwegen, was wirklich geſchieht. So gar
die aͤußern Sinnglieder, beſonders die Augen und Oh-
ren, werden durch die Uebung gewiſſermaßen geſtaͤrket
und vollkommener gemacht. Das Auge bleibet doch
nicht ganz unveraͤndert, wie es uns angeboren iſt.
Selbſt die Uebung, die von der bloßen Natur veranlaſ-
ſet wird, beſſert das Organ bey dem Gebrauch. Das
Auge waͤchſt nicht allein in der Kindheit, ſondern be-
kommt auch eine etwas andere Figur, und wird geſchick-
ter die Bilder von den Gegenſtaͤnden aufzunehmen. *)

Und
*) Haller Elem. phyſiol. T. V. Lib. XVI. ſect. II. §. 7.
12. 15.
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[413/0443] und Entwickelung des Menſchen. 4) Die Verfeinerung einer Seite unſerer lei- denden Vermoͤgen verbreitet ſich uͤber alle. 1. Da jede einzeln beobachtbare Kraftaͤußerung der Seele aus einem Thun und Leiden zuſammenge- ſetzt iſt, und alle geiſtige Vollkommenheiten des Men- ſchen eine gewiſſe Staͤrke ſeiner thaͤtigen und leidenden Vermoͤgen in ſich halten: ſo erfodert eine deutliche Vor- ſtellung von der Entwickelung der Seele, daß man die- ſe auch von ihrer zwoten Seite kennen lerne, und ſehe, ob und wie ferne die paſſiven Vermoͤgen etwas anzu- nehmen und ſich modificiren zu laſſen, das iſt, die Re- ceptivitaͤt der Seele, einer Erhoͤhung und Vergroͤßerung faͤhig ſeyn. Hiebey koͤnnte vielleicht die obige Erlaͤute- rung aus dem Search uͤber die Verbeſſerung des Ver- ſtandes, die er von dem Geſichte hernahm, anpaſſen- ſender ſcheinen, daß naͤmlich unſere natuͤrliche Vermoͤ- gen unveraͤndert bleiben wie ſie ſind, und nur die Mit- tel und Gegenſtaͤnde, wodurch und worauf ſie ſich aͤuſ- ſern, vervielfaͤltiget und vermehret werden. Aber auch hier iſt dieſe Vorſtellung nicht voͤllig richtig, wenn wir nur genauer erwegen, was wirklich geſchieht. So gar die aͤußern Sinnglieder, beſonders die Augen und Oh- ren, werden durch die Uebung gewiſſermaßen geſtaͤrket und vollkommener gemacht. Das Auge bleibet doch nicht ganz unveraͤndert, wie es uns angeboren iſt. Selbſt die Uebung, die von der bloßen Natur veranlaſ- ſet wird, beſſert das Organ bey dem Gebrauch. Das Auge waͤchſt nicht allein in der Kindheit, ſondern be- kommt auch eine etwas andere Figur, und wird geſchick- ter die Bilder von den Gegenſtaͤnden aufzunehmen. *) Und *) Haller Elem. phyſiol. T. V. Lib. XVI. ſect. II. §. 7. 12. 15.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/443>, abgerufen am 30.04.2024.