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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität

Diese Beziehung der Entwickelung der Gefühlsver-
mögen auf die vorstellende Kraft leitet auf manche Fol-
gen, die ich übergehe. Nur Eine will ich berühren.
Unsere gegenwärtigen Eindrücke von äußern Objekten
hangen, außer allem übrigen, auch von unserer innern
Empfänglichkeit ab. Es können also auch diese Ein-
drücke anfangs in der Kindheit nicht dieselbigen an Stär-
ke und Lebhaftigkeit gewesen seyn, wie sie in der
Folge sind, wenn wir die Sinne schon gestärket haben.
Wir können nicht immer Farben, Töne und so ferner,
so gesehen und gehöret haben, als wir sie nachher em-
pfinden, und auch diejenigen Züge in solchen Eindrücken
nicht, die nun unsere sinnlichen Vorstellungen sind.
Jeder Eindruck stehet in Beziehung auf die vorherge-
hende ähnliche, und jede Vorstellung auf die vorherge-
hende. Jn diesem Verstande giebt es keine reinen Em-
pfindungen mehr, die nämlich schlechthin allein von den
äußern Ursachen abhangen sollten.

4.

Endlich bestätiget es die Erfahrung hier bey dem
leidenden Vermögen der Seele, was sie bey dem thäti-
gen lehret, daß nämlich jede Erhöhung, Ausdehnung,
Verfeinerung der Receptivität der Seele an einer Seite
sich überhaupt auf sie ausbreite, und zugleich ihre ganze
Empfänglichkeit vergrößere. Dieß ist die dritte allge-
meine Wirkung, die aus der Uebung unserer innern
Gefühlsvermögen entspringet. Der Geschmack an den
Schönheiten des Gefühls wirkt in den gesammten Ge-
schmack des Menschen auf eine nähere oder entferntere
Art, merklich oder unmerklich, und bringt zum minde-
sten eine stärkere Disposition hervor, auch die Schönhei-
ten des Gehörs und anderer Sinne lebhafter zu fühlen.
Ueber die scheinbaren Ausnahmen, die hiebey stattfin-
den, kann das nämliche gesagt werden, was ich vorher

bey
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Dieſe Beziehung der Entwickelung der Gefuͤhlsver-
moͤgen auf die vorſtellende Kraft leitet auf manche Fol-
gen, die ich uͤbergehe. Nur Eine will ich beruͤhren.
Unſere gegenwaͤrtigen Eindruͤcke von aͤußern Objekten
hangen, außer allem uͤbrigen, auch von unſerer innern
Empfaͤnglichkeit ab. Es koͤnnen alſo auch dieſe Ein-
druͤcke anfangs in der Kindheit nicht dieſelbigen an Staͤr-
ke und Lebhaftigkeit geweſen ſeyn, wie ſie in der
Folge ſind, wenn wir die Sinne ſchon geſtaͤrket haben.
Wir koͤnnen nicht immer Farben, Toͤne und ſo ferner,
ſo geſehen und gehoͤret haben, als wir ſie nachher em-
pfinden, und auch diejenigen Zuͤge in ſolchen Eindruͤcken
nicht, die nun unſere ſinnlichen Vorſtellungen ſind.
Jeder Eindruck ſtehet in Beziehung auf die vorherge-
hende aͤhnliche, und jede Vorſtellung auf die vorherge-
hende. Jn dieſem Verſtande giebt es keine reinen Em-
pfindungen mehr, die naͤmlich ſchlechthin allein von den
aͤußern Urſachen abhangen ſollten.

4.

Endlich beſtaͤtiget es die Erfahrung hier bey dem
leidenden Vermoͤgen der Seele, was ſie bey dem thaͤti-
gen lehret, daß naͤmlich jede Erhoͤhung, Ausdehnung,
Verfeinerung der Receptivitaͤt der Seele an einer Seite
ſich uͤberhaupt auf ſie ausbreite, und zugleich ihre ganze
Empfaͤnglichkeit vergroͤßere. Dieß iſt die dritte allge-
meine Wirkung, die aus der Uebung unſerer innern
Gefuͤhlsvermoͤgen entſpringet. Der Geſchmack an den
Schoͤnheiten des Gefuͤhls wirkt in den geſammten Ge-
ſchmack des Menſchen auf eine naͤhere oder entferntere
Art, merklich oder unmerklich, und bringt zum minde-
ſten eine ſtaͤrkere Diſpoſition hervor, auch die Schoͤnhei-
ten des Gehoͤrs und anderer Sinne lebhafter zu fuͤhlen.
Ueber die ſcheinbaren Ausnahmen, die hiebey ſtattfin-
den, kann das naͤmliche geſagt werden, was ich vorher

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[420/0450] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Dieſe Beziehung der Entwickelung der Gefuͤhlsver- moͤgen auf die vorſtellende Kraft leitet auf manche Fol- gen, die ich uͤbergehe. Nur Eine will ich beruͤhren. Unſere gegenwaͤrtigen Eindruͤcke von aͤußern Objekten hangen, außer allem uͤbrigen, auch von unſerer innern Empfaͤnglichkeit ab. Es koͤnnen alſo auch dieſe Ein- druͤcke anfangs in der Kindheit nicht dieſelbigen an Staͤr- ke und Lebhaftigkeit geweſen ſeyn, wie ſie in der Folge ſind, wenn wir die Sinne ſchon geſtaͤrket haben. Wir koͤnnen nicht immer Farben, Toͤne und ſo ferner, ſo geſehen und gehoͤret haben, als wir ſie nachher em- pfinden, und auch diejenigen Zuͤge in ſolchen Eindruͤcken nicht, die nun unſere ſinnlichen Vorſtellungen ſind. Jeder Eindruck ſtehet in Beziehung auf die vorherge- hende aͤhnliche, und jede Vorſtellung auf die vorherge- hende. Jn dieſem Verſtande giebt es keine reinen Em- pfindungen mehr, die naͤmlich ſchlechthin allein von den aͤußern Urſachen abhangen ſollten. 4. Endlich beſtaͤtiget es die Erfahrung hier bey dem leidenden Vermoͤgen der Seele, was ſie bey dem thaͤti- gen lehret, daß naͤmlich jede Erhoͤhung, Ausdehnung, Verfeinerung der Receptivitaͤt der Seele an einer Seite ſich uͤberhaupt auf ſie ausbreite, und zugleich ihre ganze Empfaͤnglichkeit vergroͤßere. Dieß iſt die dritte allge- meine Wirkung, die aus der Uebung unſerer innern Gefuͤhlsvermoͤgen entſpringet. Der Geſchmack an den Schoͤnheiten des Gefuͤhls wirkt in den geſammten Ge- ſchmack des Menſchen auf eine naͤhere oder entferntere Art, merklich oder unmerklich, und bringt zum minde- ſten eine ſtaͤrkere Diſpoſition hervor, auch die Schoͤnhei- ten des Gehoͤrs und anderer Sinne lebhafter zu fuͤhlen. Ueber die ſcheinbaren Ausnahmen, die hiebey ſtattfin- den, kann das naͤmliche geſagt werden, was ich vorher bey

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/450>, abgerufen am 30.04.2024.