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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
5.

Bey allem dem, was von einigeu deutschen Philo-
sophen gegen die angebornen Gefühle mit vieler
Scharfsinnigkeit erinnert worden ist, hat dennoch diese
Sache in ihrem Jnnern viele Dunkelheiten; und ich
halte die völlige Entscheidung darüber, ob und wie weit
zu einem besondern Gefühle etwas eigenes in der
Anlage der Natur
nothwendig erfodert werde, in
manchen Fällen für sehr schwer, und in einigen ist sie
vielleicht gar nicht zu finden. Soll aber überhaupt
zwischen den Vermögen in der entwickelten Mannes-
seele, und zwischen den ersten Anlagen in der Kindes-
seele, eine Vergleichung angestellet und dann bestimmt
werden, ob jene aus diesen, als aus Anfangslinien,
nur entwickelt, oder auf sie als hinzugekommene Ver-
mögen gewachsen sind: so entstehet eine Untersuchung,
die von eben dem Umfang ist, und auch vielleicht
eben so viel vorher erfodert, um sich von beyden Sei-
ten recht zu verstehen, als der Streit über die ver-
schiedenen Systeme bey der Generation des Körpers.
Am Ende kann bey der Seele hierüber schwerlich et-
was anders ausgemacht werden, als durch die Analo-
gie von der Entwickelungsart des Körpers. Jm All-
gemeinen wird man diese Schwierigkeit begreifen,
wenn man auf die Gründe, deren sich die Vertheidi-
ger der besondern Gefühle bedienen, und auf die Art,
wie sie dieß thun, zurücksiehet. Man unterscheide,
was die Beobachtung für sich lehret, und was aus der
Analyse der Seelenvermögen geschlossen wird. Wenn
die letztere als dunkel und unerwiesen von den Verthei-
digern der angebornen Gefühle bey der Entscheidung
nicht zugelassen wird, so lassen sich die bloßen Erfah-
rungen, die ihnen entgegenstehen, auf eine ähnliche
Art erklären, wie Herr Bonnet die Einwendungen

gegen
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und Entwickelung des Menſchen.
5.

Bey allem dem, was von einigeu deutſchen Philo-
ſophen gegen die angebornen Gefuͤhle mit vieler
Scharfſinnigkeit erinnert worden iſt, hat dennoch dieſe
Sache in ihrem Jnnern viele Dunkelheiten; und ich
halte die voͤllige Entſcheidung daruͤber, ob und wie weit
zu einem beſondern Gefuͤhle etwas eigenes in der
Anlage der Natur
nothwendig erfodert werde, in
manchen Faͤllen fuͤr ſehr ſchwer, und in einigen iſt ſie
vielleicht gar nicht zu finden. Soll aber uͤberhaupt
zwiſchen den Vermoͤgen in der entwickelten Mannes-
ſeele, und zwiſchen den erſten Anlagen in der Kindes-
ſeele, eine Vergleichung angeſtellet und dann beſtimmt
werden, ob jene aus dieſen, als aus Anfangslinien,
nur entwickelt, oder auf ſie als hinzugekommene Ver-
moͤgen gewachſen ſind: ſo entſtehet eine Unterſuchung,
die von eben dem Umfang iſt, und auch vielleicht
eben ſo viel vorher erfodert, um ſich von beyden Sei-
ten recht zu verſtehen, als der Streit uͤber die ver-
ſchiedenen Syſteme bey der Generation des Koͤrpers.
Am Ende kann bey der Seele hieruͤber ſchwerlich et-
was anders ausgemacht werden, als durch die Analo-
gie von der Entwickelungsart des Koͤrpers. Jm All-
gemeinen wird man dieſe Schwierigkeit begreifen,
wenn man auf die Gruͤnde, deren ſich die Vertheidi-
ger der beſondern Gefuͤhle bedienen, und auf die Art,
wie ſie dieß thun, zuruͤckſiehet. Man unterſcheide,
was die Beobachtung fuͤr ſich lehret, und was aus der
Analyſe der Seelenvermoͤgen geſchloſſen wird. Wenn
die letztere als dunkel und unerwieſen von den Verthei-
digern der angebornen Gefuͤhle bey der Entſcheidung
nicht zugelaſſen wird, ſo laſſen ſich die bloßen Erfah-
rungen, die ihnen entgegenſtehen, auf eine aͤhnliche
Art erklaͤren, wie Herr Bonnet die Einwendungen

gegen
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[439/0469] und Entwickelung des Menſchen. 5. Bey allem dem, was von einigeu deutſchen Philo- ſophen gegen die angebornen Gefuͤhle mit vieler Scharfſinnigkeit erinnert worden iſt, hat dennoch dieſe Sache in ihrem Jnnern viele Dunkelheiten; und ich halte die voͤllige Entſcheidung daruͤber, ob und wie weit zu einem beſondern Gefuͤhle etwas eigenes in der Anlage der Natur nothwendig erfodert werde, in manchen Faͤllen fuͤr ſehr ſchwer, und in einigen iſt ſie vielleicht gar nicht zu finden. Soll aber uͤberhaupt zwiſchen den Vermoͤgen in der entwickelten Mannes- ſeele, und zwiſchen den erſten Anlagen in der Kindes- ſeele, eine Vergleichung angeſtellet und dann beſtimmt werden, ob jene aus dieſen, als aus Anfangslinien, nur entwickelt, oder auf ſie als hinzugekommene Ver- moͤgen gewachſen ſind: ſo entſtehet eine Unterſuchung, die von eben dem Umfang iſt, und auch vielleicht eben ſo viel vorher erfodert, um ſich von beyden Sei- ten recht zu verſtehen, als der Streit uͤber die ver- ſchiedenen Syſteme bey der Generation des Koͤrpers. Am Ende kann bey der Seele hieruͤber ſchwerlich et- was anders ausgemacht werden, als durch die Analo- gie von der Entwickelungsart des Koͤrpers. Jm All- gemeinen wird man dieſe Schwierigkeit begreifen, wenn man auf die Gruͤnde, deren ſich die Vertheidi- ger der beſondern Gefuͤhle bedienen, und auf die Art, wie ſie dieß thun, zuruͤckſiehet. Man unterſcheide, was die Beobachtung fuͤr ſich lehret, und was aus der Analyſe der Seelenvermoͤgen geſchloſſen wird. Wenn die letztere als dunkel und unerwieſen von den Verthei- digern der angebornen Gefuͤhle bey der Entſcheidung nicht zugelaſſen wird, ſo laſſen ſich die bloßen Erfah- rungen, die ihnen entgegenſtehen, auf eine aͤhnliche Art erklaͤren, wie Herr Bonnet die Einwendungen gegen E e 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/469>, abgerufen am 30.04.2024.