Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
Kampf gekostet, wenn wir einen Gebrauch von diesem
Vermögen hätten machen wollen. Wer unterscheidet
alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwäche,
und wie leicht ist sogar der Punkt verfehlet, wo die
Schwierigkeit anders zu handeln in eine Unmög-
lichkeit
übergehet? Eine völlige Selbstmacht über
sich würde nur da statt finden, wo das gleichzeitige Ver-
mögen zu dem Entgegengesetzten in der Seele eine solche
Stärke besitzet, daß es eben so leicht ist, die wirkliche
Aktion zu unterlassen, als sie vorzunehmen, oder gleich
leicht, sie anders einzurichten, als sie so zu lassen wie sie
ist. Vergleicht man die beyden Vermögen zum Thun
und zum Lassen, als bloße Vermögen mit einander,
so kann das letztere größer seyn, als das erstere. Es
ist leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh-
ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir-
kende Vermögen in seiner Wirksamkeit betrachten, so
wie die Bewegungsgründe darauf wirken, und das Ver-
mögen zum Gegentheile soll stark genug seyn, jenes in
seiner Wirksamkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu
lenken.

IV.
Das Maß der Freyheit.

Man kann die Selbstmacht über sich in einzel-
nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an-
sehen, und ihre Größe auf eine zwiefache Weise be-
stimmen. Es ist eine thätige Kraft da, welche handelt,
und zugleich ein Vermögen zu dem Gegentheile. Die
Summe von beiden zusammen machet die ganze
reelle physische Größe der freyen Kraft in dem
handelnden Wesen aus, in so ferne sich solche
auf die verrichtete Handlung beziehet.
Dieß ist
ihre absolute Größe, nach welcher die innere Größe
des freyen
selbstthätigen Wesens bestimmet wird.

Der

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Kampf gekoſtet, wenn wir einen Gebrauch von dieſem
Vermoͤgen haͤtten machen wollen. Wer unterſcheidet
alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwaͤche,
und wie leicht iſt ſogar der Punkt verfehlet, wo die
Schwierigkeit anders zu handeln in eine Unmoͤg-
lichkeit
uͤbergehet? Eine voͤllige Selbſtmacht uͤber
ſich wuͤrde nur da ſtatt finden, wo das gleichzeitige Ver-
moͤgen zu dem Entgegengeſetzten in der Seele eine ſolche
Staͤrke beſitzet, daß es eben ſo leicht iſt, die wirkliche
Aktion zu unterlaſſen, als ſie vorzunehmen, oder gleich
leicht, ſie anders einzurichten, als ſie ſo zu laſſen wie ſie
iſt. Vergleicht man die beyden Vermoͤgen zum Thun
und zum Laſſen, als bloße Vermoͤgen mit einander,
ſo kann das letztere groͤßer ſeyn, als das erſtere. Es
iſt leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh-
ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir-
kende Vermoͤgen in ſeiner Wirkſamkeit betrachten, ſo
wie die Bewegungsgruͤnde darauf wirken, und das Ver-
moͤgen zum Gegentheile ſoll ſtark genug ſeyn, jenes in
ſeiner Wirkſamkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu
lenken.

IV.
Das Maß der Freyheit.

Man kann die Selbſtmacht uͤber ſich in einzel-
nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an-
ſehen, und ihre Groͤße auf eine zwiefache Weiſe be-
ſtimmen. Es iſt eine thaͤtige Kraft da, welche handelt,
und zugleich ein Vermoͤgen zu dem Gegentheile. Die
Summe von beiden zuſammen machet die ganze
reelle phyſiſche Groͤße der freyen Kraft in dem
handelnden Weſen aus, in ſo ferne ſich ſolche
auf die verrichtete Handlung beziehet.
Dieß iſt
ihre abſolute Groͤße, nach welcher die innere Groͤße
des freyen
ſelbſtthaͤtigen Weſens beſtimmet wird.

Der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0056" n="26"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
Kampf geko&#x017F;tet, wenn wir einen Gebrauch von die&#x017F;em<lb/>
Vermo&#x0364;gen ha&#x0364;tten machen wollen. Wer unter&#x017F;cheidet<lb/>
alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwa&#x0364;che,<lb/>
und wie leicht i&#x017F;t &#x017F;ogar der Punkt verfehlet, wo die<lb/><hi rendition="#fr">Schwierigkeit</hi> anders zu handeln in eine <hi rendition="#fr">Unmo&#x0364;g-<lb/>
lichkeit</hi> u&#x0364;bergehet? Eine <hi rendition="#fr">vo&#x0364;llige</hi> Selb&#x017F;tmacht u&#x0364;ber<lb/>
&#x017F;ich wu&#x0364;rde nur da &#x017F;tatt finden, wo das gleichzeitige Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen zu dem Entgegenge&#x017F;etzten in der Seele eine &#x017F;olche<lb/>
Sta&#x0364;rke be&#x017F;itzet, daß es eben &#x017F;o leicht i&#x017F;t, die wirkliche<lb/>
Aktion zu unterla&#x017F;&#x017F;en, als &#x017F;ie vorzunehmen, oder gleich<lb/>
leicht, &#x017F;ie anders einzurichten, als &#x017F;ie &#x017F;o zu la&#x017F;&#x017F;en wie &#x017F;ie<lb/>
i&#x017F;t. Vergleicht man die beyden Vermo&#x0364;gen zum Thun<lb/>
und zum La&#x017F;&#x017F;en, als <hi rendition="#fr">bloße Vermo&#x0364;gen</hi> mit einander,<lb/>
&#x017F;o kann das letztere gro&#x0364;ßer &#x017F;eyn, als das er&#x017F;tere. Es<lb/>
i&#x017F;t leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh-<lb/>
ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir-<lb/>
kende Vermo&#x0364;gen in &#x017F;einer Wirk&#x017F;amkeit betrachten, &#x017F;o<lb/>
wie die Bewegungsgru&#x0364;nde darauf wirken, und das Ver-<lb/>
mo&#x0364;gen zum Gegentheile &#x017F;oll &#x017F;tark genug &#x017F;eyn, jenes in<lb/>
&#x017F;einer Wirk&#x017F;amkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu<lb/>
lenken.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">IV.</hi><lb/>
Das Maß der Freyheit.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">M</hi>an kann die <hi rendition="#fr">Selb&#x017F;tmacht u&#x0364;ber &#x017F;ich</hi> in einzel-<lb/>
nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an-<lb/>
&#x017F;ehen, und ihre <hi rendition="#fr">Gro&#x0364;ße</hi> auf eine zwiefache Wei&#x017F;e be-<lb/>
&#x017F;timmen. Es i&#x017F;t eine tha&#x0364;tige Kraft da, welche handelt,<lb/>
und zugleich ein Vermo&#x0364;gen zu dem Gegentheile. <hi rendition="#fr">Die<lb/>
Summe von beiden zu&#x017F;ammen machet die ganze<lb/>
reelle phy&#x017F;i&#x017F;che Gro&#x0364;ße der freyen Kraft in dem<lb/>
handelnden We&#x017F;en aus, in &#x017F;o ferne &#x017F;ich &#x017F;olche<lb/>
auf die verrichtete Handlung beziehet.</hi> Dieß i&#x017F;t<lb/>
ihre <hi rendition="#fr">ab&#x017F;olute Gro&#x0364;ße,</hi> nach welcher die <hi rendition="#fr">innere Gro&#x0364;ße<lb/>
des freyen</hi> &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen <hi rendition="#fr">We&#x017F;ens</hi> be&#x017F;timmet wird.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0056] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit Kampf gekoſtet, wenn wir einen Gebrauch von dieſem Vermoͤgen haͤtten machen wollen. Wer unterſcheidet alle hier wirklich vorkommende Stufen der Schwaͤche, und wie leicht iſt ſogar der Punkt verfehlet, wo die Schwierigkeit anders zu handeln in eine Unmoͤg- lichkeit uͤbergehet? Eine voͤllige Selbſtmacht uͤber ſich wuͤrde nur da ſtatt finden, wo das gleichzeitige Ver- moͤgen zu dem Entgegengeſetzten in der Seele eine ſolche Staͤrke beſitzet, daß es eben ſo leicht iſt, die wirkliche Aktion zu unterlaſſen, als ſie vorzunehmen, oder gleich leicht, ſie anders einzurichten, als ſie ſo zu laſſen wie ſie iſt. Vergleicht man die beyden Vermoͤgen zum Thun und zum Laſſen, als bloße Vermoͤgen mit einander, ſo kann das letztere groͤßer ſeyn, als das erſtere. Es iſt leichter, auf dem Wege den Berg hinauf umzukeh- ren, als weiter fortzugehen. Aber man muß das wir- kende Vermoͤgen in ſeiner Wirkſamkeit betrachten, ſo wie die Bewegungsgruͤnde darauf wirken, und das Ver- moͤgen zum Gegentheile ſoll ſtark genug ſeyn, jenes in ſeiner Wirkſamkeit aufzuhalten, oder anders wohin zu lenken. IV. Das Maß der Freyheit. Man kann die Selbſtmacht uͤber ſich in einzel- nen Handlungen von einer zwiefachen Seite an- ſehen, und ihre Groͤße auf eine zwiefache Weiſe be- ſtimmen. Es iſt eine thaͤtige Kraft da, welche handelt, und zugleich ein Vermoͤgen zu dem Gegentheile. Die Summe von beiden zuſammen machet die ganze reelle phyſiſche Groͤße der freyen Kraft in dem handelnden Weſen aus, in ſo ferne ſich ſolche auf die verrichtete Handlung beziehet. Dieß iſt ihre abſolute Groͤße, nach welcher die innere Groͤße des freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens beſtimmet wird. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/56
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/56>, abgerufen am 30.04.2024.