Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
doch mehr geneigt seyn zu glauben, daß die Befruch-
tung des Keims nur eine vorzügliche Erweckung der in-
nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La-
ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr schon
bereitet gewesen sey.

Wenn in Hinsicht des Körpers dem männlichen
Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage
in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die erste
Nahrung zur Ausbildung giebet: so würde man auch der
Befruchtung in Hinsicht der Seele nichts mehr zuschrei-
ben müssen, als daß die Grundkraft derselben gereizet
und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen,
wenn man will. Man kann annehmen, daß, beson-
ders in Hinsicht des Seelenwesens, die Befruchtung
mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn-
dividuum dem Vater oder der Mutter am Geschlechte
ähnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas,
was nur ein wahrscheinlicher Grund gegen die Jmma-
terialität der Seele seyn würde.

III.
Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermö-
gen, Anlagen, Jnstinkte in derselben.

Jn dem embryonischen Zustande des Menschen, in
welchem der Körper seine völlige Bildung empfängt,
wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die-
sem die Urkraft der Seele selbst eine ähnliche erhalten.
Die Wirkung hievon führet endlich zu dem Zustande
der Seele hin, worinn sie sich bey der Geburt befindet.
Und dieser Zustand ihrer leidenden und thätigen Vermö-
gen und Kräfte macht die angeborne Seelennatur
aus.

Diese Natur, so modifikabel sie auch ist, hat inso-
fern ihre festgesetzten Kräfte, Triebe und Emrichtun-

gen,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
doch mehr geneigt ſeyn zu glauben, daß die Befruch-
tung des Keims nur eine vorzuͤgliche Erweckung der in-
nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La-
ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr ſchon
bereitet geweſen ſey.

Wenn in Hinſicht des Koͤrpers dem maͤnnlichen
Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage
in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die erſte
Nahrung zur Ausbildung giebet: ſo wuͤrde man auch der
Befruchtung in Hinſicht der Seele nichts mehr zuſchrei-
ben muͤſſen, als daß die Grundkraft derſelben gereizet
und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen,
wenn man will. Man kann annehmen, daß, beſon-
ders in Hinſicht des Seelenweſens, die Befruchtung
mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn-
dividuum dem Vater oder der Mutter am Geſchlechte
aͤhnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas,
was nur ein wahrſcheinlicher Grund gegen die Jmma-
terialitaͤt der Seele ſeyn wuͤrde.

III.
Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤ-
gen, Anlagen, Jnſtinkte in derſelben.

Jn dem embryoniſchen Zuſtande des Menſchen, in
welchem der Koͤrper ſeine voͤllige Bildung empfaͤngt,
wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die-
ſem die Urkraft der Seele ſelbſt eine aͤhnliche erhalten.
Die Wirkung hievon fuͤhret endlich zu dem Zuſtande
der Seele hin, worinn ſie ſich bey der Geburt befindet.
Und dieſer Zuſtand ihrer leidenden und thaͤtigen Vermoͤ-
gen und Kraͤfte macht die angeborne Seelennatur
aus.

Dieſe Natur, ſo modifikabel ſie auch iſt, hat inſo-
fern ihre feſtgeſetzten Kraͤfte, Triebe und Emrichtun-

gen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0572" n="542"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
doch mehr geneigt &#x017F;eyn zu glauben, daß die Befruch-<lb/>
tung des Keims nur eine vorzu&#x0364;gliche Erweckung der in-<lb/>
nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La-<lb/>
ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr &#x017F;chon<lb/>
bereitet gewe&#x017F;en &#x017F;ey.</p><lb/>
            <p>Wenn in Hin&#x017F;icht des Ko&#x0364;rpers dem ma&#x0364;nnlichen<lb/>
Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage<lb/>
in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die er&#x017F;te<lb/>
Nahrung zur Ausbildung giebet: &#x017F;o wu&#x0364;rde man auch der<lb/>
Befruchtung in Hin&#x017F;icht der Seele nichts mehr zu&#x017F;chrei-<lb/>
ben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, als daß die Grundkraft der&#x017F;elben gereizet<lb/>
und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen,<lb/>
wenn man will. Man kann annehmen, daß, be&#x017F;on-<lb/>
ders in Hin&#x017F;icht des Seelenwe&#x017F;ens, die Befruchtung<lb/>
mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn-<lb/>
dividuum dem Vater oder der Mutter am Ge&#x017F;chlechte<lb/>
a&#x0364;hnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas,<lb/>
was nur ein wahr&#x017F;cheinlicher Grund gegen die Jmma-<lb/>
terialita&#x0364;t der Seele &#x017F;eyn wu&#x0364;rde.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">III.</hi><lb/>
Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermo&#x0364;-<lb/>
gen, Anlagen, Jn&#x017F;tinkte in der&#x017F;elben.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>n dem embryoni&#x017F;chen Zu&#x017F;tande des Men&#x017F;chen, in<lb/>
welchem der Ko&#x0364;rper &#x017F;eine vo&#x0364;llige Bildung empfa&#x0364;ngt,<lb/>
wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die-<lb/>
&#x017F;em die Urkraft der Seele &#x017F;elb&#x017F;t eine a&#x0364;hnliche erhalten.<lb/>
Die Wirkung hievon fu&#x0364;hret endlich zu dem Zu&#x017F;tande<lb/>
der Seele hin, worinn &#x017F;ie &#x017F;ich bey der Geburt befindet.<lb/>
Und die&#x017F;er Zu&#x017F;tand ihrer leidenden und tha&#x0364;tigen Vermo&#x0364;-<lb/>
gen und Kra&#x0364;fte macht die <hi rendition="#fr">angeborne Seelennatur</hi><lb/>
aus.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Natur, &#x017F;o modifikabel &#x017F;ie auch i&#x017F;t, hat in&#x017F;o-<lb/>
fern ihre fe&#x017F;tge&#x017F;etzten Kra&#x0364;fte, Triebe und Emrichtun-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gen,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[542/0572] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt doch mehr geneigt ſeyn zu glauben, daß die Befruch- tung des Keims nur eine vorzuͤgliche Erweckung der in- nern Kraft der Seele zur Folge habe, und daß ihre La- ge und ihr Wirkungskreis vorher in dem Keim ihr ſchon bereitet geweſen ſey. Wenn in Hinſicht des Koͤrpers dem maͤnnlichen Saamen nichts weiter zukommt, als daß er die Anlage in dem Weibchen anfachet, belebet und ihm die erſte Nahrung zur Ausbildung giebet: ſo wuͤrde man auch der Befruchtung in Hinſicht der Seele nichts mehr zuſchrei- ben muͤſſen, als daß die Grundkraft derſelben gereizet und erwecket werde. Man kann ihr aber mehr beylegen, wenn man will. Man kann annehmen, daß, beſon- ders in Hinſicht des Seelenweſens, die Befruchtung mehr oder minder modificire, nachdem das erzeugte Jn- dividuum dem Vater oder der Mutter am Geſchlechte aͤhnlich wird. Jn keinem Falle folget daraus etwas, was nur ein wahrſcheinlicher Grund gegen die Jmma- terialitaͤt der Seele ſeyn wuͤrde. III. Jdee von der angebornen Seelennatur. Vermoͤ- gen, Anlagen, Jnſtinkte in derſelben. Jn dem embryoniſchen Zuſtande des Menſchen, in welchem der Koͤrper ſeine voͤllige Bildung empfaͤngt, wird ohne Zweifel das Werkzeug der Seele und mit die- ſem die Urkraft der Seele ſelbſt eine aͤhnliche erhalten. Die Wirkung hievon fuͤhret endlich zu dem Zuſtande der Seele hin, worinn ſie ſich bey der Geburt befindet. Und dieſer Zuſtand ihrer leidenden und thaͤtigen Vermoͤ- gen und Kraͤfte macht die angeborne Seelennatur aus. Dieſe Natur, ſo modifikabel ſie auch iſt, hat inſo- fern ihre feſtgeſetzten Kraͤfte, Triebe und Emrichtun- gen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/572
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 542. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/572>, abgerufen am 30.04.2024.