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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
V.
Vom Unterschiede der Grundvermögen und der
abgeleiteten Vermögen.

Grundvermögen und abgeleitete Vermögen in
der Seele beziehen sich auf eine ähnliche Art auf
einander, wie die Grundformen in dem Keim des Kör-
pers auf die hinzukommenden Formen in dem ausgebil-
deten Körper. Zu den abgeleiteten gehöret zuerst al-
les, was sein Unterscheidungsmerkmal nur von Graden
und Stufen hat, oder wobey es auf ein Mehr oder We-
niger ankommt; aber ferner auch alle Vermögen, wo-
bey sich findet, wenn man sie auflöset, daß sie aus an-
dern einfachern zusammengesetzt sind, und daß diese Zu-
sammensetzung eine Folge von der Vergrößerung in den
einfachen ist, die sich vereinigen. Denn wo es so ist,
da mögen zwar die unterschiedenen Vermögen, nicht
bloß der Objekte wegen, sondern auch in Hinsicht den
Art und Weise zu wirken, etwas Eigenes an sich ha-
ben: so sind sie dennoch nur mittelbare Folgen von der
ersten Anlage der Seele, weil eine Entwickelung von
dieser vorhergehen muß, ehe sie auf jene neue Weise zu-
sammenwachsen und das neue Vermögen hervortrei-
ben kann. Wenn nur diejenigen abgeleiteten Vermö-
gen für verschiedene gehalten werden, die mehr als
bloß den Graden nach von einander verschieden sind, so
können wir die letzterwehnten für neu erzeugte Vermö-
gen ansehen, dagegen diejenigen als entwickelte betrach-
ten, die allein durch die Vergrößerung der ersten Anla-
gen entstehen. Die abgeleiteten Vermögen, müssen
alsdenn insbesondere als hinzugekommene angesehen
werden, wenn sie, außer der innern Einrichtung der
Seele und den Naturanlagen, noch den Einfluß der äus-
sern Ursachen zu ihrer Bestimmung erfodern. Denn
daferne sie stark genug, wenn gleich nur mittelbar, durch

die
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und Entwickelung des Menſchen.
V.
Vom Unterſchiede der Grundvermoͤgen und der
abgeleiteten Vermoͤgen.

Grundvermoͤgen und abgeleitete Vermoͤgen in
der Seele beziehen ſich auf eine aͤhnliche Art auf
einander, wie die Grundformen in dem Keim des Koͤr-
pers auf die hinzukommenden Formen in dem ausgebil-
deten Koͤrper. Zu den abgeleiteten gehoͤret zuerſt al-
les, was ſein Unterſcheidungsmerkmal nur von Graden
und Stufen hat, oder wobey es auf ein Mehr oder We-
niger ankommt; aber ferner auch alle Vermoͤgen, wo-
bey ſich findet, wenn man ſie aufloͤſet, daß ſie aus an-
dern einfachern zuſammengeſetzt ſind, und daß dieſe Zu-
ſammenſetzung eine Folge von der Vergroͤßerung in den
einfachen iſt, die ſich vereinigen. Denn wo es ſo iſt,
da moͤgen zwar die unterſchiedenen Vermoͤgen, nicht
bloß der Objekte wegen, ſondern auch in Hinſicht den
Art und Weiſe zu wirken, etwas Eigenes an ſich ha-
ben: ſo ſind ſie dennoch nur mittelbare Folgen von der
erſten Anlage der Seele, weil eine Entwickelung von
dieſer vorhergehen muß, ehe ſie auf jene neue Weiſe zu-
ſammenwachſen und das neue Vermoͤgen hervortrei-
ben kann. Wenn nur diejenigen abgeleiteten Vermoͤ-
gen fuͤr verſchiedene gehalten werden, die mehr als
bloß den Graden nach von einander verſchieden ſind, ſo
koͤnnen wir die letzterwehnten fuͤr neu erzeugte Vermoͤ-
gen anſehen, dagegen diejenigen als entwickelte betrach-
ten, die allein durch die Vergroͤßerung der erſten Anla-
gen entſtehen. Die abgeleiteten Vermoͤgen, muͤſſen
alsdenn insbeſondere als hinzugekommene angeſehen
werden, wenn ſie, außer der innern Einrichtung der
Seele und den Naturanlagen, noch den Einfluß der aͤuſ-
ſern Urſachen zu ihrer Beſtimmung erfodern. Denn
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die
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[553/0583] und Entwickelung des Menſchen. V. Vom Unterſchiede der Grundvermoͤgen und der abgeleiteten Vermoͤgen. Grundvermoͤgen und abgeleitete Vermoͤgen in der Seele beziehen ſich auf eine aͤhnliche Art auf einander, wie die Grundformen in dem Keim des Koͤr- pers auf die hinzukommenden Formen in dem ausgebil- deten Koͤrper. Zu den abgeleiteten gehoͤret zuerſt al- les, was ſein Unterſcheidungsmerkmal nur von Graden und Stufen hat, oder wobey es auf ein Mehr oder We- niger ankommt; aber ferner auch alle Vermoͤgen, wo- bey ſich findet, wenn man ſie aufloͤſet, daß ſie aus an- dern einfachern zuſammengeſetzt ſind, und daß dieſe Zu- ſammenſetzung eine Folge von der Vergroͤßerung in den einfachen iſt, die ſich vereinigen. Denn wo es ſo iſt, da moͤgen zwar die unterſchiedenen Vermoͤgen, nicht bloß der Objekte wegen, ſondern auch in Hinſicht den Art und Weiſe zu wirken, etwas Eigenes an ſich ha- ben: ſo ſind ſie dennoch nur mittelbare Folgen von der erſten Anlage der Seele, weil eine Entwickelung von dieſer vorhergehen muß, ehe ſie auf jene neue Weiſe zu- ſammenwachſen und das neue Vermoͤgen hervortrei- ben kann. Wenn nur diejenigen abgeleiteten Vermoͤ- gen fuͤr verſchiedene gehalten werden, die mehr als bloß den Graden nach von einander verſchieden ſind, ſo koͤnnen wir die letzterwehnten fuͤr neu erzeugte Vermoͤ- gen anſehen, dagegen diejenigen als entwickelte betrach- ten, die allein durch die Vergroͤßerung der erſten Anla- gen entſtehen. Die abgeleiteten Vermoͤgen, muͤſſen alsdenn insbeſondere als hinzugekommene angeſehen werden, wenn ſie, außer der innern Einrichtung der Seele und den Naturanlagen, noch den Einfluß der aͤuſ- ſern Urſachen zu ihrer Beſtimmung erfodern. Denn daferne ſie ſtark genug, wenn gleich nur mittelbar, durch die M m 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 553. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/583>, abgerufen am 30.04.2024.