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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
daß nur die schwarze Farbe der Neger in dem nördli-
chen Amerika zur Zeit noch fortwähre, aber sich doch
von selbst in den folgenden Generationen verlieren müsse.
Allein diese Antwort wird schwerlich gnügen. Es sind
der Beyspiele zu viel, welche es bestätigen, daß Eigen-
schaften sich fortpflanzen und erhalten, wo man keine
Wirkung von den äußern Ursachen mehr finden kann.
Wenn auch etwas darauf gerechnet wird, daß ihre Wir-
kung, die sie ehemals gehabt haben, noch fortbestehe;
so müßte doch solche nicht so unauslöschlich der Natur
aufgedruckt seyn, daß sie gegen den Einfluß solcher Ur-
sachen, die ihr entgegenwirken, so stark und ohne Ver-
änderung aushalten könnte, als die Erfahrung lehret,
daß sie wirklich aushält. Sie muß also anderswoher
unterstützt werden. Mich deucht, man wird nicht nur
darauf geführet, sondern fast gezwungen anzunehmen,
es gebe, außer jenen Eindrücken von dem Klima, der
Nahrung, der Lebensart und den übrigen äußern Ursa-
chen noch eine andere, die in dem Menschen selbst sey,
die nicht nur zu jenen hinzukomme, sondern auch insbe-
sondere bey der Fortpflanzung wirke, und so mächtig
wirke, daß sie für sich allein denselbigen Effekt auf die
Natur entweder hervorbringen oder solchen doch erhalten
könne, wenn er sich einmal festgesetzet hat.

4.

Eine solche Ursache finden wir wirklich in dem Men-
schen selbst. Es ist seine Nachbildungskraft, oder
Einbildungskraft, welche letztere doch eigentlich nur
ein Theil von ihr ist. Die, Art wie diese wirket und
wie sie den Menschen an Seele und Körper modificirt,
ist anderswo erkläret. *) Daß sie bey der Erzeugung
mächtig sey und auf die erste Bildung des Embryons

wirke,
*) Zehnter Versuch III. 5.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
daß nur die ſchwarze Farbe der Neger in dem noͤrdli-
chen Amerika zur Zeit noch fortwaͤhre, aber ſich doch
von ſelbſt in den folgenden Generationen verlieren muͤſſe.
Allein dieſe Antwort wird ſchwerlich gnuͤgen. Es ſind
der Beyſpiele zu viel, welche es beſtaͤtigen, daß Eigen-
ſchaften ſich fortpflanzen und erhalten, wo man keine
Wirkung von den aͤußern Urſachen mehr finden kann.
Wenn auch etwas darauf gerechnet wird, daß ihre Wir-
kung, die ſie ehemals gehabt haben, noch fortbeſtehe;
ſo muͤßte doch ſolche nicht ſo unausloͤſchlich der Natur
aufgedruckt ſeyn, daß ſie gegen den Einfluß ſolcher Ur-
ſachen, die ihr entgegenwirken, ſo ſtark und ohne Ver-
aͤnderung aushalten koͤnnte, als die Erfahrung lehret,
daß ſie wirklich aushaͤlt. Sie muß alſo anderswoher
unterſtuͤtzt werden. Mich deucht, man wird nicht nur
darauf gefuͤhret, ſondern faſt gezwungen anzunehmen,
es gebe, außer jenen Eindruͤcken von dem Klima, der
Nahrung, der Lebensart und den uͤbrigen aͤußern Urſa-
chen noch eine andere, die in dem Menſchen ſelbſt ſey,
die nicht nur zu jenen hinzukomme, ſondern auch insbe-
ſondere bey der Fortpflanzung wirke, und ſo maͤchtig
wirke, daß ſie fuͤr ſich allein denſelbigen Effekt auf die
Natur entweder hervorbringen oder ſolchen doch erhalten
koͤnne, wenn er ſich einmal feſtgeſetzet hat.

4.

Eine ſolche Urſache finden wir wirklich in dem Men-
ſchen ſelbſt. Es iſt ſeine Nachbildungskraft, oder
Einbildungskraft, welche letztere doch eigentlich nur
ein Theil von ihr iſt. Die, Art wie dieſe wirket und
wie ſie den Menſchen an Seele und Koͤrper modificirt,
iſt anderswo erklaͤret. *) Daß ſie bey der Erzeugung
maͤchtig ſey und auf die erſte Bildung des Embryons

wirke,
*) Zehnter Verſuch III. 5.
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[576/0606] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt daß nur die ſchwarze Farbe der Neger in dem noͤrdli- chen Amerika zur Zeit noch fortwaͤhre, aber ſich doch von ſelbſt in den folgenden Generationen verlieren muͤſſe. Allein dieſe Antwort wird ſchwerlich gnuͤgen. Es ſind der Beyſpiele zu viel, welche es beſtaͤtigen, daß Eigen- ſchaften ſich fortpflanzen und erhalten, wo man keine Wirkung von den aͤußern Urſachen mehr finden kann. Wenn auch etwas darauf gerechnet wird, daß ihre Wir- kung, die ſie ehemals gehabt haben, noch fortbeſtehe; ſo muͤßte doch ſolche nicht ſo unausloͤſchlich der Natur aufgedruckt ſeyn, daß ſie gegen den Einfluß ſolcher Ur- ſachen, die ihr entgegenwirken, ſo ſtark und ohne Ver- aͤnderung aushalten koͤnnte, als die Erfahrung lehret, daß ſie wirklich aushaͤlt. Sie muß alſo anderswoher unterſtuͤtzt werden. Mich deucht, man wird nicht nur darauf gefuͤhret, ſondern faſt gezwungen anzunehmen, es gebe, außer jenen Eindruͤcken von dem Klima, der Nahrung, der Lebensart und den uͤbrigen aͤußern Urſa- chen noch eine andere, die in dem Menſchen ſelbſt ſey, die nicht nur zu jenen hinzukomme, ſondern auch insbe- ſondere bey der Fortpflanzung wirke, und ſo maͤchtig wirke, daß ſie fuͤr ſich allein denſelbigen Effekt auf die Natur entweder hervorbringen oder ſolchen doch erhalten koͤnne, wenn er ſich einmal feſtgeſetzet hat. 4. Eine ſolche Urſache finden wir wirklich in dem Men- ſchen ſelbſt. Es iſt ſeine Nachbildungskraft, oder Einbildungskraft, welche letztere doch eigentlich nur ein Theil von ihr iſt. Die, Art wie dieſe wirket und wie ſie den Menſchen an Seele und Koͤrper modificirt, iſt anderswo erklaͤret. *) Daß ſie bey der Erzeugung maͤchtig ſey und auf die erſte Bildung des Embryons wirke, *) Zehnter Verſuch III. 5.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/606>, abgerufen am 30.04.2024.