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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
5.

Aber wenn es nun Seelenvermögen sind, die man
mit einander vergleichen will: wo ist denn das Maß,
die Grade der Vollkommenheit zu bestimmen, die in ih-
nen liegt? Wonach kann die Größe der Seelennatur, wel-
che in einer Form enthalten ist, mit der in einer andern
verglichen werden? Wir haben zwar eine allgemeine
Regel, daß die Vollkommenheit der Seele desto größer
sey, je größer die Summe der Realitäten ist, welche
herauskommt, wenn man die Kräfte und Vermögen,
jede einzelnen nach ihrer intensiven, extensiven und pro-
tensiven Größe geschätzet, zusammennimmt. Was
nutzet aber eine solche unbestimmte Regel, wenn ver-
schiedenartige Kräfte, die Empfindsamkeit, die Vor-
stellungskraft, die Denkkraft und die Wirksamkeit in
sich und außer sich, eine im Verhältniß zu der andern,
zu würdigen sind? Wo ist z. E. mehr Seelengröße,
in dem Dichtungsvermögen, in dem Gedächtniß, oder
in der Ueberlegungskraft? Wenn alle diese Kräfte zu-
gleich in einem Jndividuum größer sind als in einem an-
dern, so ist auch ohne Zweifel in jenem eine größere
Menschheit; aber wie soll die Ausgleichung gemacht
werden, wenn einer an dieser, ein anderer an einer an-
dern, Seite Vorzüge hat? Wie wenn Vorzüge an Ver-
standeskraft mit Vorzügen am Herzen zu vergleichen
sind? Welches ist alsdenn mehr oder weniger schätz-
bar? nach welchem Maßstab, und aus welchem Grunde?
Bis zu einer genauen Vergleichung wird es hierinn nie-
mals kommen. Aber dennoch ist es für unsere prakti-
schen Urtheile wichtig, daß man den Grund aufsuche,
wornach auch das gemeine Gefühl in solchen Fällen zu
schätzen pfleget. Jst die Tugend und Rechtschaffenheit
nicht eine schätzbarere Eigenschaft, als Witz? Jst der
gesunde Verstand nicht mehr werth, als ein schöner Ver-
stand? Sollte dieß Urtheil des gemeinen Gefühls und

der
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und Entwickelung des Menſchen.
5.

Aber wenn es nun Seelenvermoͤgen ſind, die man
mit einander vergleichen will: wo iſt denn das Maß,
die Grade der Vollkommenheit zu beſtimmen, die in ih-
nen liegt? Wonach kann die Groͤße der Seelennatur, wel-
che in einer Form enthalten iſt, mit der in einer andern
verglichen werden? Wir haben zwar eine allgemeine
Regel, daß die Vollkommenheit der Seele deſto groͤßer
ſey, je groͤßer die Summe der Realitaͤten iſt, welche
herauskommt, wenn man die Kraͤfte und Vermoͤgen,
jede einzelnen nach ihrer intenſiven, extenſiven und pro-
tenſiven Groͤße geſchaͤtzet, zuſammennimmt. Was
nutzet aber eine ſolche unbeſtimmte Regel, wenn ver-
ſchiedenartige Kraͤfte, die Empfindſamkeit, die Vor-
ſtellungskraft, die Denkkraft und die Wirkſamkeit in
ſich und außer ſich, eine im Verhaͤltniß zu der andern,
zu wuͤrdigen ſind? Wo iſt z. E. mehr Seelengroͤße,
in dem Dichtungsvermoͤgen, in dem Gedaͤchtniß, oder
in der Ueberlegungskraft? Wenn alle dieſe Kraͤfte zu-
gleich in einem Jndividuum groͤßer ſind als in einem an-
dern, ſo iſt auch ohne Zweifel in jenem eine groͤßere
Menſchheit; aber wie ſoll die Ausgleichung gemacht
werden, wenn einer an dieſer, ein anderer an einer an-
dern, Seite Vorzuͤge hat? Wie wenn Vorzuͤge an Ver-
ſtandeskraft mit Vorzuͤgen am Herzen zu vergleichen
ſind? Welches iſt alsdenn mehr oder weniger ſchaͤtz-
bar? nach welchem Maßſtab, und aus welchem Grunde?
Bis zu einer genauen Vergleichung wird es hierinn nie-
mals kommen. Aber dennoch iſt es fuͤr unſere prakti-
ſchen Urtheile wichtig, daß man den Grund aufſuche,
wornach auch das gemeine Gefuͤhl in ſolchen Faͤllen zu
ſchaͤtzen pfleget. Jſt die Tugend und Rechtſchaffenheit
nicht eine ſchaͤtzbarere Eigenſchaft, als Witz? Jſt der
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der
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[649/0679] und Entwickelung des Menſchen. 5. Aber wenn es nun Seelenvermoͤgen ſind, die man mit einander vergleichen will: wo iſt denn das Maß, die Grade der Vollkommenheit zu beſtimmen, die in ih- nen liegt? Wonach kann die Groͤße der Seelennatur, wel- che in einer Form enthalten iſt, mit der in einer andern verglichen werden? Wir haben zwar eine allgemeine Regel, daß die Vollkommenheit der Seele deſto groͤßer ſey, je groͤßer die Summe der Realitaͤten iſt, welche herauskommt, wenn man die Kraͤfte und Vermoͤgen, jede einzelnen nach ihrer intenſiven, extenſiven und pro- tenſiven Groͤße geſchaͤtzet, zuſammennimmt. Was nutzet aber eine ſolche unbeſtimmte Regel, wenn ver- ſchiedenartige Kraͤfte, die Empfindſamkeit, die Vor- ſtellungskraft, die Denkkraft und die Wirkſamkeit in ſich und außer ſich, eine im Verhaͤltniß zu der andern, zu wuͤrdigen ſind? Wo iſt z. E. mehr Seelengroͤße, in dem Dichtungsvermoͤgen, in dem Gedaͤchtniß, oder in der Ueberlegungskraft? Wenn alle dieſe Kraͤfte zu- gleich in einem Jndividuum groͤßer ſind als in einem an- dern, ſo iſt auch ohne Zweifel in jenem eine groͤßere Menſchheit; aber wie ſoll die Ausgleichung gemacht werden, wenn einer an dieſer, ein anderer an einer an- dern, Seite Vorzuͤge hat? Wie wenn Vorzuͤge an Ver- ſtandeskraft mit Vorzuͤgen am Herzen zu vergleichen ſind? Welches iſt alsdenn mehr oder weniger ſchaͤtz- bar? nach welchem Maßſtab, und aus welchem Grunde? Bis zu einer genauen Vergleichung wird es hierinn nie- mals kommen. Aber dennoch iſt es fuͤr unſere prakti- ſchen Urtheile wichtig, daß man den Grund aufſuche, wornach auch das gemeine Gefuͤhl in ſolchen Faͤllen zu ſchaͤtzen pfleget. Jſt die Tugend und Rechtſchaffenheit nicht eine ſchaͤtzbarere Eigenſchaft, als Witz? Jſt der geſunde Verſtand nicht mehr werth, als ein ſchoͤner Ver- ſtand? Sollte dieß Urtheil des gemeinen Gefuͤhls und der S s 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 649. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/679>, abgerufen am 30.04.2024.