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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
6.

Nach diesem allgemeinen Grunde sollte auch als-
denn unser Urtheil sich richten, wenn der Werth der be-
besondern Vollkommenheiten des Geistes, des Ver-
standes und des Willens geschätzet wird. So geschieht
es auch die meisten Male in den Aussprüchen des unver-
dorbenen Verstandes, der ohne Raisonnement aus ent-
wickelten Grundsätzen, bloß nach Anleitung eines feinen
Gefühls, denket; wenn nämlich von dem innern und
absoluten Werth solcher Eigenschaften die Rede ist.
Denn was ihren relativen Werth unter gewissen Um-
ständen und in Hinsicht auf uns selbst betrifft, so hängt
solcher von äußern und zufälligen Ursachen ab, wie bey
allen andern Sachen, denen wir einen Werth beylegen.
Diesen setze man hier bey Seite, und sehe auf das Jn-
nere der Sachen. Warum ist die hohe Dichtungskraft
eine Vollkommenheit, die wir wie etwas Göttliches
schätzen? Was giebt ihr ihre innere Würde, die uns
mit Bewunderung gegen den Mann erfüllet, der eine sol-
che Welt von Jdeen hat schaffen und ordnen können? Es
ist offenbar die große innere Stärke der Vorstellungs-
kraft in der Seele. Die Menge und die Größe der
Bilder, welche die Phantasie mit Leichtigkeit gegenwär-
tig hält und bearbeitet, beweisen die Stärke der vor-
stellenden Kraft. Aber wenn diese nicht als selbstthä-
tiges Seelenvermögen wirket, und durch ihre eigene
Wirksamkeit Ordnung und Uebereinstimmung zu einem
Zweck in die Bilder bringet, so ist die Gegenwart der
Bilder, die aus andern Ursachen herrührt, nichts als
eine Art von Raserey, und das Vermögen solche zu
haben nichts weiter, als eine Kraft des Gehirns, oder
des zum Gehirn hindringenden Geblüts, wodurch die
Bilder empfundener Gegenstände erneuert und unter
einander geworfen werden. Die Vorstellungen in der
Meßiade, einzeln herausgenommen, in ihre Elemente

aufge-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
6.

Nach dieſem allgemeinen Grunde ſollte auch als-
denn unſer Urtheil ſich richten, wenn der Werth der be-
beſondern Vollkommenheiten des Geiſtes, des Ver-
ſtandes und des Willens geſchaͤtzet wird. So geſchieht
es auch die meiſten Male in den Ausſpruͤchen des unver-
dorbenen Verſtandes, der ohne Raiſonnement aus ent-
wickelten Grundſaͤtzen, bloß nach Anleitung eines feinen
Gefuͤhls, denket; wenn naͤmlich von dem innern und
abſoluten Werth ſolcher Eigenſchaften die Rede iſt.
Denn was ihren relativen Werth unter gewiſſen Um-
ſtaͤnden und in Hinſicht auf uns ſelbſt betrifft, ſo haͤngt
ſolcher von aͤußern und zufaͤlligen Urſachen ab, wie bey
allen andern Sachen, denen wir einen Werth beylegen.
Dieſen ſetze man hier bey Seite, und ſehe auf das Jn-
nere der Sachen. Warum iſt die hohe Dichtungskraft
eine Vollkommenheit, die wir wie etwas Goͤttliches
ſchaͤtzen? Was giebt ihr ihre innere Wuͤrde, die uns
mit Bewunderung gegen den Mann erfuͤllet, der eine ſol-
che Welt von Jdeen hat ſchaffen und ordnen koͤnnen? Es
iſt offenbar die große innere Staͤrke der Vorſtellungs-
kraft in der Seele. Die Menge und die Groͤße der
Bilder, welche die Phantaſie mit Leichtigkeit gegenwaͤr-
tig haͤlt und bearbeitet, beweiſen die Staͤrke der vor-
ſtellenden Kraft. Aber wenn dieſe nicht als ſelbſtthaͤ-
tiges Seelenvermoͤgen wirket, und durch ihre eigene
Wirkſamkeit Ordnung und Uebereinſtimmung zu einem
Zweck in die Bilder bringet, ſo iſt die Gegenwart der
Bilder, die aus andern Urſachen herruͤhrt, nichts als
eine Art von Raſerey, und das Vermoͤgen ſolche zu
haben nichts weiter, als eine Kraft des Gehirns, oder
des zum Gehirn hindringenden Gebluͤts, wodurch die
Bilder empfundener Gegenſtaͤnde erneuert und unter
einander geworfen werden. Die Vorſtellungen in der
Meßiade, einzeln herausgenommen, in ihre Elemente

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[652/0682] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt 6. Nach dieſem allgemeinen Grunde ſollte auch als- denn unſer Urtheil ſich richten, wenn der Werth der be- beſondern Vollkommenheiten des Geiſtes, des Ver- ſtandes und des Willens geſchaͤtzet wird. So geſchieht es auch die meiſten Male in den Ausſpruͤchen des unver- dorbenen Verſtandes, der ohne Raiſonnement aus ent- wickelten Grundſaͤtzen, bloß nach Anleitung eines feinen Gefuͤhls, denket; wenn naͤmlich von dem innern und abſoluten Werth ſolcher Eigenſchaften die Rede iſt. Denn was ihren relativen Werth unter gewiſſen Um- ſtaͤnden und in Hinſicht auf uns ſelbſt betrifft, ſo haͤngt ſolcher von aͤußern und zufaͤlligen Urſachen ab, wie bey allen andern Sachen, denen wir einen Werth beylegen. Dieſen ſetze man hier bey Seite, und ſehe auf das Jn- nere der Sachen. Warum iſt die hohe Dichtungskraft eine Vollkommenheit, die wir wie etwas Goͤttliches ſchaͤtzen? Was giebt ihr ihre innere Wuͤrde, die uns mit Bewunderung gegen den Mann erfuͤllet, der eine ſol- che Welt von Jdeen hat ſchaffen und ordnen koͤnnen? Es iſt offenbar die große innere Staͤrke der Vorſtellungs- kraft in der Seele. Die Menge und die Groͤße der Bilder, welche die Phantaſie mit Leichtigkeit gegenwaͤr- tig haͤlt und bearbeitet, beweiſen die Staͤrke der vor- ſtellenden Kraft. Aber wenn dieſe nicht als ſelbſtthaͤ- tiges Seelenvermoͤgen wirket, und durch ihre eigene Wirkſamkeit Ordnung und Uebereinſtimmung zu einem Zweck in die Bilder bringet, ſo iſt die Gegenwart der Bilder, die aus andern Urſachen herruͤhrt, nichts als eine Art von Raſerey, und das Vermoͤgen ſolche zu haben nichts weiter, als eine Kraft des Gehirns, oder des zum Gehirn hindringenden Gebluͤts, wodurch die Bilder empfundener Gegenſtaͤnde erneuert und unter einander geworfen werden. Die Vorſtellungen in der Meßiade, einzeln herausgenommen, in ihre Elemente aufge-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/682>, abgerufen am 30.04.2024.