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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
dern von ihrer Natur. Die eine Nation ist gastfrey,
leutselig, dienstfertig; die andere zeichnet sich durch ih-
ren Haß gegen Fremde aus. Man kann daraus allein
nicht schließen, daß jene größere Menschen sind, als diese.
Nur soferne diese Tugenden wahre Tugenden sind, und
in größerer Stärke des Gefühls und der Selbstthätig-
keit der Seele bestehen, das ist, soferne sie Wirkun-
gen der Vernunft sind, beweisen sie auch, daß ihre
Besitzer innerlich größere und vollkommnere Menschen
sind. Das zahm gemachte, abgerichtete, thätige Men-
schenthier ist von dem sich selbst bezähmenden, regie-
renden und aus Eigenmacht der Seele wirksamen, Men-
schen sehr unterschieden. Nur die innere Geistesgröße
ist es, die den Weisen zu dem erhabensten und hochach-
tungswürdigsten der sichtbaren Geschöpfe Gottes macht.

7.

Es giebt noch einen andern Gesichtspunkt, woraus
die Tugend, der Verstand und die starke Vorstellungs-
kraft mit einander verglichen werden können. Herr
Wieland hielt den Geist des Shakespear für größer
als den Geist des Newton. Aber welch eine Wage und
welche Gewichte gehören dazu, zween solche Geister gegen
einander abzuwägen. Hat Hr. Wieland Newtons
eindringende Vernunft so anschaulich gekannt, als die
vordringende Phantasie des Shakespear? Jch
glaube, er habe den Ausspruch des gemeinen Verstan-
des gegen sich. Ein tiefer Verstand erreget, ich meyne,
wenigstens bey den meisten, einen höhern Grad der
Hochachtung als eine vielseitige und starke Vorstellungs-
kraft; so wie hohe Tugend noch über den hohen Ver-
stand geachtet wird. Alle Seelenvermögen hängen zum
Theil von der Organisation des Körpers ab, und sind
von dieser Seite betrachtet körperlich; aber sie scheinen
es doch nicht alle in gleicher Maße zu seyn. Die Leb-

haftig-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dern von ihrer Natur. Die eine Nation iſt gaſtfrey,
leutſelig, dienſtfertig; die andere zeichnet ſich durch ih-
ren Haß gegen Fremde aus. Man kann daraus allein
nicht ſchließen, daß jene groͤßere Menſchen ſind, als dieſe.
Nur ſoferne dieſe Tugenden wahre Tugenden ſind, und
in groͤßerer Staͤrke des Gefuͤhls und der Selbſtthaͤtig-
keit der Seele beſtehen, das iſt, ſoferne ſie Wirkun-
gen der Vernunft ſind, beweiſen ſie auch, daß ihre
Beſitzer innerlich groͤßere und vollkommnere Menſchen
ſind. Das zahm gemachte, abgerichtete, thaͤtige Men-
ſchenthier iſt von dem ſich ſelbſt bezaͤhmenden, regie-
renden und aus Eigenmacht der Seele wirkſamen, Men-
ſchen ſehr unterſchieden. Nur die innere Geiſtesgroͤße
iſt es, die den Weiſen zu dem erhabenſten und hochach-
tungswuͤrdigſten der ſichtbaren Geſchoͤpfe Gottes macht.

7.

Es giebt noch einen andern Geſichtspunkt, woraus
die Tugend, der Verſtand und die ſtarke Vorſtellungs-
kraft mit einander verglichen werden koͤnnen. Herr
Wieland hielt den Geiſt des Shakeſpear fuͤr groͤßer
als den Geiſt des Newton. Aber welch eine Wage und
welche Gewichte gehoͤren dazu, zween ſolche Geiſter gegen
einander abzuwaͤgen. Hat Hr. Wieland Newtons
eindringende Vernunft ſo anſchaulich gekannt, als die
vordringende Phantaſie des Shakeſpear? Jch
glaube, er habe den Ausſpruch des gemeinen Verſtan-
des gegen ſich. Ein tiefer Verſtand erreget, ich meyne,
wenigſtens bey den meiſten, einen hoͤhern Grad der
Hochachtung als eine vielſeitige und ſtarke Vorſtellungs-
kraft; ſo wie hohe Tugend noch uͤber den hohen Ver-
ſtand geachtet wird. Alle Seelenvermoͤgen haͤngen zum
Theil von der Organiſation des Koͤrpers ab, und ſind
von dieſer Seite betrachtet koͤrperlich; aber ſie ſcheinen
es doch nicht alle in gleicher Maße zu ſeyn. Die Leb-

haftig-
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[658/0688] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt dern von ihrer Natur. Die eine Nation iſt gaſtfrey, leutſelig, dienſtfertig; die andere zeichnet ſich durch ih- ren Haß gegen Fremde aus. Man kann daraus allein nicht ſchließen, daß jene groͤßere Menſchen ſind, als dieſe. Nur ſoferne dieſe Tugenden wahre Tugenden ſind, und in groͤßerer Staͤrke des Gefuͤhls und der Selbſtthaͤtig- keit der Seele beſtehen, das iſt, ſoferne ſie Wirkun- gen der Vernunft ſind, beweiſen ſie auch, daß ihre Beſitzer innerlich groͤßere und vollkommnere Menſchen ſind. Das zahm gemachte, abgerichtete, thaͤtige Men- ſchenthier iſt von dem ſich ſelbſt bezaͤhmenden, regie- renden und aus Eigenmacht der Seele wirkſamen, Men- ſchen ſehr unterſchieden. Nur die innere Geiſtesgroͤße iſt es, die den Weiſen zu dem erhabenſten und hochach- tungswuͤrdigſten der ſichtbaren Geſchoͤpfe Gottes macht. 7. Es giebt noch einen andern Geſichtspunkt, woraus die Tugend, der Verſtand und die ſtarke Vorſtellungs- kraft mit einander verglichen werden koͤnnen. Herr Wieland hielt den Geiſt des Shakeſpear fuͤr groͤßer als den Geiſt des Newton. Aber welch eine Wage und welche Gewichte gehoͤren dazu, zween ſolche Geiſter gegen einander abzuwaͤgen. Hat Hr. Wieland Newtons eindringende Vernunft ſo anſchaulich gekannt, als die vordringende Phantaſie des Shakeſpear? Jch glaube, er habe den Ausſpruch des gemeinen Verſtan- des gegen ſich. Ein tiefer Verſtand erreget, ich meyne, wenigſtens bey den meiſten, einen hoͤhern Grad der Hochachtung als eine vielſeitige und ſtarke Vorſtellungs- kraft; ſo wie hohe Tugend noch uͤber den hohen Ver- ſtand geachtet wird. Alle Seelenvermoͤgen haͤngen zum Theil von der Organiſation des Koͤrpers ab, und ſind von dieſer Seite betrachtet koͤrperlich; aber ſie ſcheinen es doch nicht alle in gleicher Maße zu ſeyn. Die Leb- haftig-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 658. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/688>, abgerufen am 30.04.2024.