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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
einander geschätzet werden, als durch eine Reduktion auf ein
allgemeines Maß, das wir nicht anwenden können. Wenn
uns diese Betrachtung nicht lehret den Menschen gegen
den Menschen zu messen: so wird sie doch zur Bescheiden-
heit und Demuth führen können, wenn es unserer Eigen-
liebe einfällt uns, einiger Vorzüge an Einer Seite we-
gen, so hoch über andere Menschen wegzusetzen.

8.

Es ist fast nicht möglich, wenn man die Menschheit
in ihren mannichfaltigen Formen übersieht, und besonders,
wenn die Absicht dabey ist pragmatische Folgerungen
über das, was wahres Gut in ihr ist, aus der Betrach-
tung abzuziehen, daß uns nicht die Frage aufstoßen soll-
te: worinn eigentlich der Werth unsers Wissens
und der Erkenntniß,
und was hier noch mehr zu-
rück ist, der Wahrheit bestehe? und nach welchen
Grundsätzen solcher zu schätzen sey? Allein es ist schon
genug hierüber gesagt, und die Sache fast so völlig erör-
tert, daß ich nur einiges, so viel mein gegenwärtiger
Zweck nothwendig macht, davon ausziehen darf. Die
Wahrheit ist von einem unendlichen Werthe für uns.
Dieß kann nicht genug gesagt werden, um der Gleich-
gültigkeit willen gegen sie. Aber dennoch ist sie es nur
in gewissen Hinsichten, und mit Einschränkungen. Dieß
kann auch nicht genug gesagt werden, um des Fanatis-
mus willen.

Jede Kenntniß, jede Jdee, jede Vorstellung macht,
als eine Form der Seele, für sich die Vorstellungskraft
aufgelegter andere zu fassen, die mit ihr Aehnlichkeit
haben und sich auf sie beziehen. Jn soweit ist sie eine
Verstärkung der Seelenvermögen. Jede Jdee erreget
auch Empfindungen, die theils unmittelbar angenehm
oder widrig, oder auch einen Einfluß auf das Herz ha-
ben, und also Bewegungsgründe zu weitern Thätigkei-

ten

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
einander geſchaͤtzet werden, als durch eine Reduktion auf ein
allgemeines Maß, das wir nicht anwenden koͤnnen. Wenn
uns dieſe Betrachtung nicht lehret den Menſchen gegen
den Menſchen zu meſſen: ſo wird ſie doch zur Beſcheiden-
heit und Demuth fuͤhren koͤnnen, wenn es unſerer Eigen-
liebe einfaͤllt uns, einiger Vorzuͤge an Einer Seite we-
gen, ſo hoch uͤber andere Menſchen wegzuſetzen.

8.

Es iſt faſt nicht moͤglich, wenn man die Menſchheit
in ihren mannichfaltigen Formen uͤberſieht, und beſonders,
wenn die Abſicht dabey iſt pragmatiſche Folgerungen
uͤber das, was wahres Gut in ihr iſt, aus der Betrach-
tung abzuziehen, daß uns nicht die Frage aufſtoßen ſoll-
te: worinn eigentlich der Werth unſers Wiſſens
und der Erkenntniß,
und was hier noch mehr zu-
ruͤck iſt, der Wahrheit beſtehe? und nach welchen
Grundſaͤtzen ſolcher zu ſchaͤtzen ſey? Allein es iſt ſchon
genug hieruͤber geſagt, und die Sache faſt ſo voͤllig eroͤr-
tert, daß ich nur einiges, ſo viel mein gegenwaͤrtiger
Zweck nothwendig macht, davon ausziehen darf. Die
Wahrheit iſt von einem unendlichen Werthe fuͤr uns.
Dieß kann nicht genug geſagt werden, um der Gleich-
guͤltigkeit willen gegen ſie. Aber dennoch iſt ſie es nur
in gewiſſen Hinſichten, und mit Einſchraͤnkungen. Dieß
kann auch nicht genug geſagt werden, um des Fanatis-
mus willen.

Jede Kenntniß, jede Jdee, jede Vorſtellung macht,
als eine Form der Seele, fuͤr ſich die Vorſtellungskraft
aufgelegter andere zu faſſen, die mit ihr Aehnlichkeit
haben und ſich auf ſie beziehen. Jn ſoweit iſt ſie eine
Verſtaͤrkung der Seelenvermoͤgen. Jede Jdee erreget
auch Empfindungen, die theils unmittelbar angenehm
oder widrig, oder auch einen Einfluß auf das Herz ha-
ben, und alſo Bewegungsgruͤnde zu weitern Thaͤtigkei-

ten
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[662/0692] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt einander geſchaͤtzet werden, als durch eine Reduktion auf ein allgemeines Maß, das wir nicht anwenden koͤnnen. Wenn uns dieſe Betrachtung nicht lehret den Menſchen gegen den Menſchen zu meſſen: ſo wird ſie doch zur Beſcheiden- heit und Demuth fuͤhren koͤnnen, wenn es unſerer Eigen- liebe einfaͤllt uns, einiger Vorzuͤge an Einer Seite we- gen, ſo hoch uͤber andere Menſchen wegzuſetzen. 8. Es iſt faſt nicht moͤglich, wenn man die Menſchheit in ihren mannichfaltigen Formen uͤberſieht, und beſonders, wenn die Abſicht dabey iſt pragmatiſche Folgerungen uͤber das, was wahres Gut in ihr iſt, aus der Betrach- tung abzuziehen, daß uns nicht die Frage aufſtoßen ſoll- te: worinn eigentlich der Werth unſers Wiſſens und der Erkenntniß, und was hier noch mehr zu- ruͤck iſt, der Wahrheit beſtehe? und nach welchen Grundſaͤtzen ſolcher zu ſchaͤtzen ſey? Allein es iſt ſchon genug hieruͤber geſagt, und die Sache faſt ſo voͤllig eroͤr- tert, daß ich nur einiges, ſo viel mein gegenwaͤrtiger Zweck nothwendig macht, davon ausziehen darf. Die Wahrheit iſt von einem unendlichen Werthe fuͤr uns. Dieß kann nicht genug geſagt werden, um der Gleich- guͤltigkeit willen gegen ſie. Aber dennoch iſt ſie es nur in gewiſſen Hinſichten, und mit Einſchraͤnkungen. Dieß kann auch nicht genug geſagt werden, um des Fanatis- mus willen. Jede Kenntniß, jede Jdee, jede Vorſtellung macht, als eine Form der Seele, fuͤr ſich die Vorſtellungskraft aufgelegter andere zu faſſen, die mit ihr Aehnlichkeit haben und ſich auf ſie beziehen. Jn ſoweit iſt ſie eine Verſtaͤrkung der Seelenvermoͤgen. Jede Jdee erreget auch Empfindungen, die theils unmittelbar angenehm oder widrig, oder auch einen Einfluß auf das Herz ha- ben, und alſo Bewegungsgruͤnde zu weitern Thaͤtigkei- ten

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/692>, abgerufen am 30.04.2024.