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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Jdeen hinausgehet, da kann der ganze Werth der
Wahrheit nicht anders als nach den Folgen beurtheilet
werden, welche die Jdeen als Jdeen, ohne Rücksicht
darauf, ob sie richtig oder unrichtig sind, in dem Her-
zen und in den Handlungen hervorbringen. Bey sol-
chen Personen ist Wahrheit und Jrrthum von gleichem
Werthe, wenn sie das Herz mit gleich guten Gesinnun-
gen und Empfindungen anfüllen. Nur allein in Hin-
sicht der Folge, wenn die Vervollkommnung weiter geht,
bleibet der oben angeführte Vorzug der Wahrheit eigen,
wenn diese gleich gegenwärtig so abgesondert im Ver-
stande, oder eigentlicher im Gedächtnisse, liegt, daß sie
den Menschen weder besser noch glücklicher macht.

10.

Diese Anmerkung kann dem wohlthätigen Bestre-
ben, unsere Mitmenschen, die im Finsterniß und Aber-
glauben sind, zu dem Licht der Religion zu bringen,
nicht das geringste von seinem wahren Werthe beneh-
men. Nur den falschen Glanz nimmt sie weg, womit
die Phantasie unvernünftiger Zeloten das Proselyten ma-
chen übertüncht hat. Wo nichts weiter auszurichten
ist, als daß die Jdeen in dem Kopf mit andern Jdeen,
Bilder mit Bildern, getauscht werden, die den Verstand
nicht mehr aufklären und das Herz nicht besser machen,
als beides vorher war, die den Menschen im Leben nicht
zufriedener, und im Sterben nicht ruhiger und hoff-
nungsvoller machen, als er es bey seinen Vorurtheilen
vorhero war: da ist die Absicht, welche erreicht wird,
zu unwichtig für die Mittel, die auf ihn zu verwenden
sind. So ist es unstreitig in manchen Fällen gewesen.
Der Versuch, die Religionsideen eines Menschen zu
ändern, ist ein an sich mißlicher und bey Leuten, die
nicht selbst denken können, gefährlicher Versuch. Man
verwundert sich im Jnnersten, wenn man diese Begriffe

angreift,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Jdeen hinausgehet, da kann der ganze Werth der
Wahrheit nicht anders als nach den Folgen beurtheilet
werden, welche die Jdeen als Jdeen, ohne Ruͤckſicht
darauf, ob ſie richtig oder unrichtig ſind, in dem Her-
zen und in den Handlungen hervorbringen. Bey ſol-
chen Perſonen iſt Wahrheit und Jrrthum von gleichem
Werthe, wenn ſie das Herz mit gleich guten Geſinnun-
gen und Empfindungen anfuͤllen. Nur allein in Hin-
ſicht der Folge, wenn die Vervollkommnung weiter geht,
bleibet der oben angefuͤhrte Vorzug der Wahrheit eigen,
wenn dieſe gleich gegenwaͤrtig ſo abgeſondert im Ver-
ſtande, oder eigentlicher im Gedaͤchtniſſe, liegt, daß ſie
den Menſchen weder beſſer noch gluͤcklicher macht.

10.

Dieſe Anmerkung kann dem wohlthaͤtigen Beſtre-
ben, unſere Mitmenſchen, die im Finſterniß und Aber-
glauben ſind, zu dem Licht der Religion zu bringen,
nicht das geringſte von ſeinem wahren Werthe beneh-
men. Nur den falſchen Glanz nimmt ſie weg, womit
die Phantaſie unvernuͤnftiger Zeloten das Proſelyten ma-
chen uͤbertuͤncht hat. Wo nichts weiter auszurichten
iſt, als daß die Jdeen in dem Kopf mit andern Jdeen,
Bilder mit Bildern, getauſcht werden, die den Verſtand
nicht mehr aufklaͤren und das Herz nicht beſſer machen,
als beides vorher war, die den Menſchen im Leben nicht
zufriedener, und im Sterben nicht ruhiger und hoff-
nungsvoller machen, als er es bey ſeinen Vorurtheilen
vorhero war: da iſt die Abſicht, welche erreicht wird,
zu unwichtig fuͤr die Mittel, die auf ihn zu verwenden
ſind. So iſt es unſtreitig in manchen Faͤllen geweſen.
Der Verſuch, die Religionsideen eines Menſchen zu
aͤndern, iſt ein an ſich mißlicher und bey Leuten, die
nicht ſelbſt denken koͤnnen, gefaͤhrlicher Verſuch. Man
verwundert ſich im Jnnerſten, wenn man dieſe Begriffe

angreift,
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[670/0700] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Jdeen hinausgehet, da kann der ganze Werth der Wahrheit nicht anders als nach den Folgen beurtheilet werden, welche die Jdeen als Jdeen, ohne Ruͤckſicht darauf, ob ſie richtig oder unrichtig ſind, in dem Her- zen und in den Handlungen hervorbringen. Bey ſol- chen Perſonen iſt Wahrheit und Jrrthum von gleichem Werthe, wenn ſie das Herz mit gleich guten Geſinnun- gen und Empfindungen anfuͤllen. Nur allein in Hin- ſicht der Folge, wenn die Vervollkommnung weiter geht, bleibet der oben angefuͤhrte Vorzug der Wahrheit eigen, wenn dieſe gleich gegenwaͤrtig ſo abgeſondert im Ver- ſtande, oder eigentlicher im Gedaͤchtniſſe, liegt, daß ſie den Menſchen weder beſſer noch gluͤcklicher macht. 10. Dieſe Anmerkung kann dem wohlthaͤtigen Beſtre- ben, unſere Mitmenſchen, die im Finſterniß und Aber- glauben ſind, zu dem Licht der Religion zu bringen, nicht das geringſte von ſeinem wahren Werthe beneh- men. Nur den falſchen Glanz nimmt ſie weg, womit die Phantaſie unvernuͤnftiger Zeloten das Proſelyten ma- chen uͤbertuͤncht hat. Wo nichts weiter auszurichten iſt, als daß die Jdeen in dem Kopf mit andern Jdeen, Bilder mit Bildern, getauſcht werden, die den Verſtand nicht mehr aufklaͤren und das Herz nicht beſſer machen, als beides vorher war, die den Menſchen im Leben nicht zufriedener, und im Sterben nicht ruhiger und hoff- nungsvoller machen, als er es bey ſeinen Vorurtheilen vorhero war: da iſt die Abſicht, welche erreicht wird, zu unwichtig fuͤr die Mittel, die auf ihn zu verwenden ſind. So iſt es unſtreitig in manchen Faͤllen geweſen. Der Verſuch, die Religionsideen eines Menſchen zu aͤndern, iſt ein an ſich mißlicher und bey Leuten, die nicht ſelbſt denken koͤnnen, gefaͤhrlicher Verſuch. Man verwundert ſich im Jnnerſten, wenn man dieſe Begriffe angreift,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 670. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/700>, abgerufen am 30.04.2024.