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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
übrigen, wenn nicht gar bey allen ein innerer verborge-
ner Fehler in der Organisation gewesen ist, lehren zwar,
wie weit die Naturanlage zur Menschheit zurückbleiben
kann; aber ihrer sind so wenige, und diese gehören zu
sehr zu den außerordentlichen, als daß man auf sie Be-
tracht nehmen dürfe, wenn von der wirklichen Mensch-
heit die Rede ist.

2.

Es ist unmöglich, daß auch der roheste Mensch zu
einem fertigen Gebrauch seiner Sinne gelangen kann,
ohne zugleich sein Ueberlegungsvermögen zu üben und
zu stärken. Bey den Thieren geht dieß wohl an; aber
bey dem Menschen ist es eine Folge seiner Natur, daß
man auf einen guten Menschenverstand schließen muß,
wo man ihn seine Sinne richtig gebrauchen sieht. Die-
se Fertigkeit, nach den Eindrücken auf die Sinne über
die Objekte zu urtheilen, kann nicht erlanget werden, oh-
ne daß Jdeen angereihet, verglichen, auf einander be-
zogen und wahrgenommen sind. Nun sind die Wilden
in diesem Stück so wenig unter den Kultivirten, daß
ihnen vielmehr fast durchgehends ein Vorzug vor diesen,
an der einen oder der andern Seite der Sinnlichkeit, zu-
geschrieben wird. Sie reichen weit mit den Augen,
sie sehen scharf und hören genau. Viele von ihnen be-
sitzen einen weit spürenden Geruch. Dazu trift man
bey allen dieselbigen Gemüthsbewegungen und Leiden-
schaften an wie bey uns, von allen Gattungen, Liebe,
Haß, Freundschaft, Feindschaft, Furcht und Hoff-
nung, Niedergeschlagenheit und Muth. Sie besitzen
auch ihren Grad von Ehr- und Ruhmliebe. Jhre Lei-
denschaften wirken mit der heftigsten Jntension, aber
freylich weniger auseinandergesetzt und eingeschränkter
am Umfang, weil die kleine Anzahl der Objekte, die sie

in

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
uͤbrigen, wenn nicht gar bey allen ein innerer verborge-
ner Fehler in der Organiſation geweſen iſt, lehren zwar,
wie weit die Naturanlage zur Menſchheit zuruͤckbleiben
kann; aber ihrer ſind ſo wenige, und dieſe gehoͤren zu
ſehr zu den außerordentlichen, als daß man auf ſie Be-
tracht nehmen duͤrfe, wenn von der wirklichen Menſch-
heit die Rede iſt.

2.

Es iſt unmoͤglich, daß auch der roheſte Menſch zu
einem fertigen Gebrauch ſeiner Sinne gelangen kann,
ohne zugleich ſein Ueberlegungsvermoͤgen zu uͤben und
zu ſtaͤrken. Bey den Thieren geht dieß wohl an; aber
bey dem Menſchen iſt es eine Folge ſeiner Natur, daß
man auf einen guten Menſchenverſtand ſchließen muß,
wo man ihn ſeine Sinne richtig gebrauchen ſieht. Die-
ſe Fertigkeit, nach den Eindruͤcken auf die Sinne uͤber
die Objekte zu urtheilen, kann nicht erlanget werden, oh-
ne daß Jdeen angereihet, verglichen, auf einander be-
zogen und wahrgenommen ſind. Nun ſind die Wilden
in dieſem Stuͤck ſo wenig unter den Kultivirten, daß
ihnen vielmehr faſt durchgehends ein Vorzug vor dieſen,
an der einen oder der andern Seite der Sinnlichkeit, zu-
geſchrieben wird. Sie reichen weit mit den Augen,
ſie ſehen ſcharf und hoͤren genau. Viele von ihnen be-
ſitzen einen weit ſpuͤrenden Geruch. Dazu trift man
bey allen dieſelbigen Gemuͤthsbewegungen und Leiden-
ſchaften an wie bey uns, von allen Gattungen, Liebe,
Haß, Freundſchaft, Feindſchaft, Furcht und Hoff-
nung, Niedergeſchlagenheit und Muth. Sie beſitzen
auch ihren Grad von Ehr- und Ruhmliebe. Jhre Lei-
denſchaften wirken mit der heftigſten Jntenſion, aber
freylich weniger auseinandergeſetzt und eingeſchraͤnkter
am Umfang, weil die kleine Anzahl der Objekte, die ſie

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[678/0708] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt uͤbrigen, wenn nicht gar bey allen ein innerer verborge- ner Fehler in der Organiſation geweſen iſt, lehren zwar, wie weit die Naturanlage zur Menſchheit zuruͤckbleiben kann; aber ihrer ſind ſo wenige, und dieſe gehoͤren zu ſehr zu den außerordentlichen, als daß man auf ſie Be- tracht nehmen duͤrfe, wenn von der wirklichen Menſch- heit die Rede iſt. 2. Es iſt unmoͤglich, daß auch der roheſte Menſch zu einem fertigen Gebrauch ſeiner Sinne gelangen kann, ohne zugleich ſein Ueberlegungsvermoͤgen zu uͤben und zu ſtaͤrken. Bey den Thieren geht dieß wohl an; aber bey dem Menſchen iſt es eine Folge ſeiner Natur, daß man auf einen guten Menſchenverſtand ſchließen muß, wo man ihn ſeine Sinne richtig gebrauchen ſieht. Die- ſe Fertigkeit, nach den Eindruͤcken auf die Sinne uͤber die Objekte zu urtheilen, kann nicht erlanget werden, oh- ne daß Jdeen angereihet, verglichen, auf einander be- zogen und wahrgenommen ſind. Nun ſind die Wilden in dieſem Stuͤck ſo wenig unter den Kultivirten, daß ihnen vielmehr faſt durchgehends ein Vorzug vor dieſen, an der einen oder der andern Seite der Sinnlichkeit, zu- geſchrieben wird. Sie reichen weit mit den Augen, ſie ſehen ſcharf und hoͤren genau. Viele von ihnen be- ſitzen einen weit ſpuͤrenden Geruch. Dazu trift man bey allen dieſelbigen Gemuͤthsbewegungen und Leiden- ſchaften an wie bey uns, von allen Gattungen, Liebe, Haß, Freundſchaft, Feindſchaft, Furcht und Hoff- nung, Niedergeſchlagenheit und Muth. Sie beſitzen auch ihren Grad von Ehr- und Ruhmliebe. Jhre Lei- denſchaften wirken mit der heftigſten Jntenſion, aber freylich weniger auseinandergeſetzt und eingeſchraͤnkter am Umfang, weil die kleine Anzahl der Objekte, die ſie in

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/708>, abgerufen am 30.04.2024.