Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
mehr wesentlicher Mangel an Menschheit. Jhre Grös-
se hängt von der Größe der Realität in dem Seelenwe-
sen ab. Jst nun die Organisation des Körpers, inso-
fern sie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft,
so giebt es einen gewissen Grad dieses Mangels, der vor
andern verdienet bemerket und, so viel möglich, fest
bestimmet zu werden. Das ist dieser, wo die Organi-
sation bis dahin fehlerhaft ist, daß die Seele ihre Selbst-
thätigkeit -- diese Eigenschaft der Menschheit -- nicht
anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche
elende Personen können nicht aus der Klasse der Men-
schen ausgestrichen werden. Dieß sind und bleiben sie.
Aber sie gehören nicht mehr zu der Klasse der ausgebil-
deten Menschen; nicht zu der Klasse derer, bey wel-
chen die Selbstthätigkeit und Freyheit sich weiter entwi-
ckelt hätte, als sie von Natur war. Sie ist in ihrem
Keim als Anlage geblieben. Solche Personen können
nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande-
re Fehler im Körper, der die Folge nicht hat, daß er
den Menschen um seine Selbstständigkeit bringt, kann
ihm auch den Rang eines freyen selbstthätigen Wesens
nicht benehmen, noch die Rechte und Befugnisse, die
seine gleichen Nebengeschöpfe ihm, als einem solchem, zu-
gestehen müssen.

4.

"Daß alle Menschen von Natur einander gleich
"sind," ist eine große, lang verkannte und noch itzo nur
dem kleinsten Theil der Menschen einleuchtende Wahr-
heit. Es gehöret zu den Vorzügen unsers Jahrhun-
derts, daß die erhabensten unter den Menschen, Jo-
seph
und Catharina, die Richtigkeit derselben bezeuget
haben. Allein diese Gleichheit von Natur ist doch mit
derjenigen nicht zu verwechseln, welche zwischen den aus-
gebildeten Menschen stattfindet. Die letztere ist, als

Gleich-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
mehr weſentlicher Mangel an Menſchheit. Jhre Groͤſ-
ſe haͤngt von der Groͤße der Realitaͤt in dem Seelenwe-
ſen ab. Jſt nun die Organiſation des Koͤrpers, inſo-
fern ſie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft,
ſo giebt es einen gewiſſen Grad dieſes Mangels, der vor
andern verdienet bemerket und, ſo viel moͤglich, feſt
beſtimmet zu werden. Das iſt dieſer, wo die Organi-
ſation bis dahin fehlerhaft iſt, daß die Seele ihre Selbſt-
thaͤtigkeit — dieſe Eigenſchaft der Menſchheit — nicht
anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche
elende Perſonen koͤnnen nicht aus der Klaſſe der Men-
ſchen ausgeſtrichen werden. Dieß ſind und bleiben ſie.
Aber ſie gehoͤren nicht mehr zu der Klaſſe der ausgebil-
deten Menſchen; nicht zu der Klaſſe derer, bey wel-
chen die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit ſich weiter entwi-
ckelt haͤtte, als ſie von Natur war. Sie iſt in ihrem
Keim als Anlage geblieben. Solche Perſonen koͤnnen
nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande-
re Fehler im Koͤrper, der die Folge nicht hat, daß er
den Menſchen um ſeine Selbſtſtaͤndigkeit bringt, kann
ihm auch den Rang eines freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens
nicht benehmen, noch die Rechte und Befugniſſe, die
ſeine gleichen Nebengeſchoͤpfe ihm, als einem ſolchem, zu-
geſtehen muͤſſen.

4.

„Daß alle Menſchen von Natur einander gleich
„ſind,‟ iſt eine große, lang verkannte und noch itzo nur
dem kleinſten Theil der Menſchen einleuchtende Wahr-
heit. Es gehoͤret zu den Vorzuͤgen unſers Jahrhun-
derts, daß die erhabenſten unter den Menſchen, Jo-
ſeph
und Catharina, die Richtigkeit derſelben bezeuget
haben. Allein dieſe Gleichheit von Natur iſt doch mit
derjenigen nicht zu verwechſeln, welche zwiſchen den aus-
gebildeten Menſchen ſtattfindet. Die letztere iſt, als

Gleich-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0714" n="684"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
mehr we&#x017F;entlicher Mangel an Men&#x017F;chheit. Jhre Gro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;e ha&#x0364;ngt von der Gro&#x0364;ße der Realita&#x0364;t in dem Seelenwe-<lb/>
&#x017F;en ab. J&#x017F;t nun die Organi&#x017F;ation des Ko&#x0364;rpers, in&#x017F;o-<lb/>
fern &#x017F;ie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft,<lb/>
&#x017F;o giebt es einen gewi&#x017F;&#x017F;en Grad die&#x017F;es Mangels, der vor<lb/>
andern verdienet bemerket und, &#x017F;o viel mo&#x0364;glich, fe&#x017F;t<lb/>
be&#x017F;timmet zu werden. Das i&#x017F;t die&#x017F;er, wo die Organi-<lb/>
&#x017F;ation bis dahin fehlerhaft i&#x017F;t, daß die Seele ihre Selb&#x017F;t-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit &#x2014; die&#x017F;e Eigen&#x017F;chaft der Men&#x017F;chheit &#x2014; nicht<lb/>
anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche<lb/>
elende Per&#x017F;onen ko&#x0364;nnen nicht aus der Kla&#x017F;&#x017F;e der Men-<lb/>
&#x017F;chen ausge&#x017F;trichen werden. Dieß &#x017F;ind und bleiben &#x017F;ie.<lb/>
Aber &#x017F;ie geho&#x0364;ren nicht mehr zu der Kla&#x017F;&#x017F;e der ausgebil-<lb/>
deten Men&#x017F;chen; nicht zu der Kla&#x017F;&#x017F;e derer, bey wel-<lb/>
chen die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit und Freyheit &#x017F;ich weiter entwi-<lb/>
ckelt ha&#x0364;tte, als &#x017F;ie von Natur war. Sie i&#x017F;t in ihrem<lb/>
Keim als Anlage geblieben. Solche Per&#x017F;onen ko&#x0364;nnen<lb/>
nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande-<lb/>
re Fehler im Ko&#x0364;rper, der die Folge nicht hat, daß er<lb/>
den Men&#x017F;chen um &#x017F;eine Selb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit bringt, kann<lb/>
ihm auch den Rang eines freyen &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen We&#x017F;ens<lb/>
nicht benehmen, noch die Rechte und Befugni&#x017F;&#x017F;e, die<lb/>
&#x017F;eine gleichen Nebenge&#x017F;cho&#x0364;pfe ihm, als einem &#x017F;olchem, zu-<lb/>
ge&#x017F;tehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>4.</head><lb/>
              <p>&#x201E;Daß alle Men&#x017F;chen <hi rendition="#fr">von Natur</hi> einander gleich<lb/>
&#x201E;&#x017F;ind,&#x201F; i&#x017F;t eine große, lang verkannte und noch itzo nur<lb/>
dem klein&#x017F;ten Theil der Men&#x017F;chen einleuchtende Wahr-<lb/>
heit. Es geho&#x0364;ret zu den Vorzu&#x0364;gen un&#x017F;ers Jahrhun-<lb/>
derts, daß die erhaben&#x017F;ten unter den Men&#x017F;chen, <hi rendition="#fr">Jo-<lb/>
&#x017F;eph</hi> und <hi rendition="#fr">Catharina,</hi> die Richtigkeit der&#x017F;elben bezeuget<lb/>
haben. Allein die&#x017F;e Gleichheit von Natur i&#x017F;t doch mit<lb/>
derjenigen nicht zu verwech&#x017F;eln, welche zwi&#x017F;chen den aus-<lb/>
gebildeten Men&#x017F;chen &#x017F;tattfindet. Die letztere i&#x017F;t, als<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Gleich-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[684/0714] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt mehr weſentlicher Mangel an Menſchheit. Jhre Groͤſ- ſe haͤngt von der Groͤße der Realitaͤt in dem Seelenwe- ſen ab. Jſt nun die Organiſation des Koͤrpers, inſo- fern ſie das Werkzeug der Seele ausmacht, fehlerhaft, ſo giebt es einen gewiſſen Grad dieſes Mangels, der vor andern verdienet bemerket und, ſo viel moͤglich, feſt beſtimmet zu werden. Das iſt dieſer, wo die Organi- ſation bis dahin fehlerhaft iſt, daß die Seele ihre Selbſt- thaͤtigkeit — dieſe Eigenſchaft der Menſchheit — nicht anwenden und daher nicht ausbilden kann. Solche elende Perſonen koͤnnen nicht aus der Klaſſe der Men- ſchen ausgeſtrichen werden. Dieß ſind und bleiben ſie. Aber ſie gehoͤren nicht mehr zu der Klaſſe der ausgebil- deten Menſchen; nicht zu der Klaſſe derer, bey wel- chen die Selbſtthaͤtigkeit und Freyheit ſich weiter entwi- ckelt haͤtte, als ſie von Natur war. Sie iſt in ihrem Keim als Anlage geblieben. Solche Perſonen koͤnnen nicht als freyhandelnde betrachtet werden. Jeder ande- re Fehler im Koͤrper, der die Folge nicht hat, daß er den Menſchen um ſeine Selbſtſtaͤndigkeit bringt, kann ihm auch den Rang eines freyen ſelbſtthaͤtigen Weſens nicht benehmen, noch die Rechte und Befugniſſe, die ſeine gleichen Nebengeſchoͤpfe ihm, als einem ſolchem, zu- geſtehen muͤſſen. 4. „Daß alle Menſchen von Natur einander gleich „ſind,‟ iſt eine große, lang verkannte und noch itzo nur dem kleinſten Theil der Menſchen einleuchtende Wahr- heit. Es gehoͤret zu den Vorzuͤgen unſers Jahrhun- derts, daß die erhabenſten unter den Menſchen, Jo- ſeph und Catharina, die Richtigkeit derſelben bezeuget haben. Allein dieſe Gleichheit von Natur iſt doch mit derjenigen nicht zu verwechſeln, welche zwiſchen den aus- gebildeten Menſchen ſtattfindet. Die letztere iſt, als Gleich-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/714
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 684. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/714>, abgerufen am 30.04.2024.