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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Wird die Reproduktion der harmonischen Bewegungen
in dem Körper erschweret, so wird auch die Erweckung
der menschlichen Vorstellungen und der menschlichen
Seelenthätigkeiten erschweret. Denn diese letztern erfol-
gen nicht, woferne nicht jene vorhanden sind; und ohne
das Gefühl der begleitenden körperlichen Bewegungen
fühlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht.
Der Mensch wird also langsamer und minder lebhaft
denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele
nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Diensten ist.
Allein eben diese Schwierigkeit, das Organ gehörig zu
lenken, kann eine Veranlassung seyn, die Kraft des un-
körperlichen Jchs anzustrengen, zu üben und zu stär-
ken. Mag die ganze menschliche Thätigkeit gerin-
ger seyn, als vorhero, so kann die Seelenthätigkeit,
als der immaterielle Antheil derselben, größer seyn. Es
ist also wenigstens nicht ganz unmöglich, und mehr be-
haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn
das Feuer im Denken und Handeln nachläßt und zu
verlöschen anfängt, die Stärke der innern Seelenkraft
nicht nur dieselbige bleibe, sondern noch fortfahre erhö-
het zu werden.

6.

Die relativen Vermögen, oder besondere Ge-
schicklichkeiten, müssen gleichfalls im Menschen ihr Ma-
ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung
von allen Virtuosen lehret. Doch ist dieser Punkt von
dem Punkt des Größten in den absoluten Kräften unter-
schieden. Die letztern haben oft genug ihre höchste Stu-
fe schon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewissen be-
stimmten Arten zu handeln nicht nur sich vervielfältigen
und also an Ausdehnung zunehmen, sondern auch an
innerer Stärke und Geschwindigkeit noch fortwachsen.
Dieser Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-

nahme

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen
in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung
der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen
Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol-
gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne
das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen
fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht.
Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft
denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele
nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt.
Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu
lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un-
koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr-
ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin-
ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit,
als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es
iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be-
haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn
das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu
verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft
nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ-
het zu werden.

6.

Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge-
ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma-
ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung
von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von
dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter-
ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu-
fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be-
ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen
und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an
innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen.
Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab-

nahme
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[724/0754] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Wird die Reproduktion der harmoniſchen Bewegungen in dem Koͤrper erſchweret, ſo wird auch die Erweckung der menſchlichen Vorſtellungen und der menſchlichen Seelenthaͤtigkeiten erſchweret. Denn dieſe letztern erfol- gen nicht, woferne nicht jene vorhanden ſind; und ohne das Gefuͤhl der begleitenden koͤrperlichen Bewegungen fuͤhlt und appercipirt die Seele ihre eigene Aktion nicht. Der Menſch wird alſo langſamer und minder lebhaft denken, wollen, handeln, wenn das Organ der Seele nicht mehr mit der vorigen Leichtigkeit ihm zu Dienſten iſt. Allein eben dieſe Schwierigkeit, das Organ gehoͤrig zu lenken, kann eine Veranlaſſung ſeyn, die Kraft des un- koͤrperlichen Jchs anzuſtrengen, zu uͤben und zu ſtaͤr- ken. Mag die ganze menſchliche Thaͤtigkeit gerin- ger ſeyn, als vorhero, ſo kann die Seelenthaͤtigkeit, als der immaterielle Antheil derſelben, groͤßer ſeyn. Es iſt alſo wenigſtens nicht ganz unmoͤglich, und mehr be- haupte ich hier nicht, daß auch noch in dem Alter, wenn das Feuer im Denken und Handeln nachlaͤßt und zu verloͤſchen anfaͤngt, die Staͤrke der innern Seelenkraft nicht nur dieſelbige bleibe, ſondern noch fortfahre erhoͤ- het zu werden. 6. Die relativen Vermoͤgen, oder beſondere Ge- ſchicklichkeiten, muͤſſen gleichfalls im Menſchen ihr Ma- ximum erreichen, und erreichen es, wie die Erfahrung von allen Virtuoſen lehret. Doch iſt dieſer Punkt von dem Punkt des Groͤßten in den abſoluten Kraͤften unter- ſchieden. Die letztern haben oft genug ihre hoͤchſte Stu- fe ſchon erreicht, wenn die Fertigkeiten in gewiſſen be- ſtimmten Arten zu handeln nicht nur ſich vervielfaͤltigen und alſo an Ausdehnung zunehmen, ſondern auch an innerer Staͤrke und Geſchwindigkeit noch fortwachſen. Dieſer Wachsthum kann weit in die Periode der Ab- nahme

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/754>, abgerufen am 30.04.2024.