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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
II.
Von der Wiederabnahme der Seelenvermögen
überhaupt.

1) Vorerinnerung.
2) Jn welchem Verstande die Wiederabnah-
me der Seelenvermögen keine Wiedereinwi-
ckelung der Seele seyn kann.

1.

Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver-
mögen kann man fast von demselbigen Punkt an-
nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er-
langet ist. Jndessen giebt es doch in der Seele wie in
dem Körper einen gewissen Stillstand von einiger Zeit,
der als ein Beharrungsstand anzusehen ist, worinn
die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch
nicht merklich ungleich sind, die, wie es sich bey allen
fortschreitenden und wiederabnehmenden Wesen verhält,
schnell und in den kleinsten Graden mit einander ab-
wechseln. Dieß ist des Menschen Mittag. Die Kräf-
te der Seele und des Körpers erfahren ihre Fluth und
Ebbe. Sie sind an dem Morgen jeden Tages stärker
und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr
Abwechselung, wenn der Mensch krank und wieder ge-
sund wird. Allein so lange der Stillstand in dem Leben
dauert, setzet sich alles wieder so ziemlich in den Gleich-
stand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk-
lich wird.

Die Abnahme in den Kräften des Körpers,
und die in den Seelenkräften, gehen gewissermaßen
nebeneinander. Es lehret auch bey dieser wie bey jener
die Erfahrung, "daß die Abnahme desto zeitiger ein-
"tritt, je schneller die Entwickelung bis zu ihrem Größ-
"ten gegangen ist." Dieß geschieht gemeiniglich, ob-

gleich
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
II.
Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen
uͤberhaupt.

1) Vorerinnerung.
2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah-
me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi-
ckelung der Seele ſeyn kann.

1.

Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver-
moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an-
nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er-
langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in
dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit,
der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn
die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch
nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen
fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt,
ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab-
wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf-
te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und
Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker
und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr
Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge-
ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben
dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich-
ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk-
lich wird.

Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers,
und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen
nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener
die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein-
„tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß-
„ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob-

gleich
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[726/0756] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt II. Von der Wiederabnahme der Seelenvermoͤgen uͤberhaupt. 1) Vorerinnerung. 2) Jn welchem Verſtande die Wiederabnah- me der Seelenvermoͤgen keine Wiedereinwi- ckelung der Seele ſeyn kann. 1. Die Periode der Wiederabnahme in den Seelenver- moͤgen kann man faſt von demſelbigen Punkt an- nehmen, wo das Maximum in der Entwickelung er- langet iſt. Jndeſſen giebt es doch in der Seele wie in dem Koͤrper einen gewiſſen Stillſtand von einiger Zeit, der als ein Beharrungsſtand anzuſehen iſt, worinn die Zunahme und Abnahme einander gleich, oder doch nicht merklich ungleich ſind, die, wie es ſich bey allen fortſchreitenden und wiederabnehmenden Weſen verhaͤlt, ſchnell und in den kleinſten Graden mit einander ab- wechſeln. Dieß iſt des Menſchen Mittag. Die Kraͤf- te der Seele und des Koͤrpers erfahren ihre Fluth und Ebbe. Sie ſind an dem Morgen jeden Tages ſtaͤrker und munterer als am Abend. Sie erfahren noch mehr Abwechſelung, wenn der Menſch krank und wieder ge- ſund wird. Allein ſo lange der Stillſtand in dem Leben dauert, ſetzet ſich alles wieder ſo ziemlich in den Gleich- ſtand, daß Jahre vergehen, ehe die Abnahme merk- lich wird. Die Abnahme in den Kraͤften des Koͤrpers, und die in den Seelenkraͤften, gehen gewiſſermaßen nebeneinander. Es lehret auch bey dieſer wie bey jener die Erfahrung, „daß die Abnahme deſto zeitiger ein- „tritt, je ſchneller die Entwickelung bis zu ihrem Groͤß- „ten gegangen iſt.‟ Dieß geſchieht gemeiniglich, ob- gleich

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 726. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/756>, abgerufen am 30.04.2024.