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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
gleich Ausnahmen vorkommen. Diese und dergleichen
Bemerkungen mehr, nebst ihren Abweichungen und
Verschiedenheiten in den verschiedenen Menschenarten,
gehören zu der Naturgeschichte des Menschen, die ich
hier übergehe. Aber was die Art und Weise des Ab-
nehmens an Seelenkräften betrift, und welchen Begriff
man aus der Erfahrung sich davon zu machen habe?
ob es in einem Verlust bestehe, oder in einer Wieder-
einwickelung?
worinnen es bestehe, insofern es in
dem Organ der Seele vor sich geht? und was es in
der Seele selbst
sey? dieß sind Hauptstücke in der
Philosophie über den Menschen, worüber ich wünschte,
einiges Licht verbreiten zu können.

2.

Die Abnahme der Seelenkräfte ist eben so wenig
eine Wiedereinwickelung der Vermögen, als die
Ahnahme des Körpers so etwas ist, wenn man sich eine
Rückkehr in den ehemaligen Zustand der Jugend dar-
unter vorstellet, das ist, in den Zustand, worinn die
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermögen war, da
sie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen
Vermögen besaß. Sonsten kann sie anderer Beschaf-
fenheiten wegen, von gewissen Seiten betrachtet, wohl
eine Einwickelung genennet werden. Man sehe nur
zuerst auf das, was in dem Körper geschieht, wenn der
Mensch alt wird. Es folgt keine Verjüngerung. Die
entwickelte Form behält, den wesentlichen Stücken nach,
ihre einmal erlangte Größe, ihren Umfang und ihre
Masse, und die Theile bleiben unter sich in derselbigen
Lage und Ordnung, behalten dieselbigen Verhältnisse auf-
einander, wie sie solche angenommen haben. Die we-
nigen Veränderungen in der Länge und Größe, die Ver-
kürzungen der Fasern, ihre Verdünnung, und was man
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und

eine
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und Entwickelung des Menſchen.
gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen
Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und
Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten,
gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich
hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab-
nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff
man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe?
ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder-
einwickelung?
worinnen es beſtehe, inſofern es in
dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in
der Seele ſelbſt
ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der
Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte,
einiges Licht verbreiten zu koͤnnen.

2.

Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig
eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die
Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine
Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar-
unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die
Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da
ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen
Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf-
fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl
eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur
zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der
Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die
entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach,
ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre
Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen
Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf-
einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we-
nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver-
kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man
mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und

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[727/0757] und Entwickelung des Menſchen. gleich Ausnahmen vorkommen. Dieſe und dergleichen Bemerkungen mehr, nebſt ihren Abweichungen und Verſchiedenheiten in den verſchiedenen Menſchenarten, gehoͤren zu der Naturgeſchichte des Menſchen, die ich hier uͤbergehe. Aber was die Art und Weiſe des Ab- nehmens an Seelenkraͤften betrift, und welchen Begriff man aus der Erfahrung ſich davon zu machen habe? ob es in einem Verluſt beſtehe, oder in einer Wieder- einwickelung? worinnen es beſtehe, inſofern es in dem Organ der Seele vor ſich geht? und was es in der Seele ſelbſt ſey? dieß ſind Hauptſtuͤcke in der Philoſophie uͤber den Menſchen, woruͤber ich wuͤnſchte, einiges Licht verbreiten zu koͤnnen. 2. Die Abnahme der Seelenkraͤfte iſt eben ſo wenig eine Wiedereinwickelung der Vermoͤgen, als die Ahnahme des Koͤrpers ſo etwas iſt, wenn man ſich eine Ruͤckkehr in den ehemaligen Zuſtand der Jugend dar- unter vorſtellet, das iſt, in den Zuſtand, worinn die Seele vor der Entwickelung ihrer Vermoͤgen war, da ſie nur die Principe und Anlagen zu den nachherigen Vermoͤgen beſaß. Sonſten kann ſie anderer Beſchaf- fenheiten wegen, von gewiſſen Seiten betrachtet, wohl eine Einwickelung genennet werden. Man ſehe nur zuerſt auf das, was in dem Koͤrper geſchieht, wenn der Menſch alt wird. Es folgt keine Verjuͤngerung. Die entwickelte Form behaͤlt, den weſentlichen Stuͤcken nach, ihre einmal erlangte Groͤße, ihren Umfang und ihre Maſſe, und die Theile bleiben unter ſich in derſelbigen Lage und Ordnung, behalten dieſelbigen Verhaͤltniſſe auf- einander, wie ſie ſolche angenommen haben. Die we- nigen Veraͤnderungen in der Laͤnge und Groͤße, die Ver- kuͤrzungen der Faſern, ihre Verduͤnnung, und was man mehr noch unter dem Einkriechen des Alters begreift und eine Z z 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 727. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/757>, abgerufen am 30.04.2024.