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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
nahme zu machen ist, wie bey der Entwickelung in Hin-
sicht derer, die nicht vollständig organisirt sind. Es
kommt auf eine Schätzung an, wozu es uns an dem
bestimmten Maßstab fehlet, und an dem Mittel ihn
anzubringen. Daher mag auch das Resultat bey meh-
rern, die hierüber urtheilen, sehr verschieden ausfallen.
Vorurtheile und Leidenschaft und Phantasie machen ei-
ne genaue Vergleichung fast unmöglich. Jndessen fin-
det man, daß die Gefühle des Lebens, der Wirksamkeit,
der Ruhe und des körperlichen Wohlseyns, welche die er-
sten Grundlagen aller Freuden ausmachen, durch die
ganze Menschheit verbreitet sind, zu denen sich auch
Glaube und Hoffnung fast allenthalben gesellet hat.
Wenn man die Wirkungen hievon sich etwas anschauli-
cher vorstellet, und dann mit der Geschichte vergleichet:
so wird man sich geneigt fühlen, andern mehr Gleichheit
mit uns einzuräumen, als die Einbildung beym ersten
Blick für möglich hält; so wichtig, alles unsers Be-
mühens und Anstrengens würdig und wünschenswerth
auch dasjenige immer bleibet, was ein Volk vor dem
andern und mehr noch Einzelne vor andern einzelnen
voraus haben. Jst es nicht möglich, Völker aus ver-
schiedenen Welttheilen, Gesittete und Wilde, genau ge-
nug zu vergleichen, und sich hiervon zu überzeugen: so sehe
man nur auf die Verschiedenheit, die man in der Nähe
um sich hat. Man wird dieselbigen Resultate finden,
wenn man ohne Vorurtheil beobachtet. Jch breche von
dieser Materie hier ab, und schließe mit zwo Anmer-
kungen, die sich von selbst darbieten, wenn man noch-
mals auf den Menschen in seinem Bestreben nach Glück-
seligkeit und Vollkommenheit und auf die Wirkung des-
selben einen Blick wirft.

11.

Man leget den Menschen einen Naturtrieb zur
Glückseligkeit,
zu seiner Erhaltung, Vervoll-

komm-
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und Entwickelung des Menſchen.
nahme zu machen iſt, wie bey der Entwickelung in Hin-
ſicht derer, die nicht vollſtaͤndig organiſirt ſind. Es
kommt auf eine Schaͤtzung an, wozu es uns an dem
beſtimmten Maßſtab fehlet, und an dem Mittel ihn
anzubringen. Daher mag auch das Reſultat bey meh-
rern, die hieruͤber urtheilen, ſehr verſchieden ausfallen.
Vorurtheile und Leidenſchaft und Phantaſie machen ei-
ne genaue Vergleichung faſt unmoͤglich. Jndeſſen fin-
det man, daß die Gefuͤhle des Lebens, der Wirkſamkeit,
der Ruhe und des koͤrperlichen Wohlſeyns, welche die er-
ſten Grundlagen aller Freuden ausmachen, durch die
ganze Menſchheit verbreitet ſind, zu denen ſich auch
Glaube und Hoffnung faſt allenthalben geſellet hat.
Wenn man die Wirkungen hievon ſich etwas anſchauli-
cher vorſtellet, und dann mit der Geſchichte vergleichet:
ſo wird man ſich geneigt fuͤhlen, andern mehr Gleichheit
mit uns einzuraͤumen, als die Einbildung beym erſten
Blick fuͤr moͤglich haͤlt; ſo wichtig, alles unſers Be-
muͤhens und Anſtrengens wuͤrdig und wuͤnſchenswerth
auch dasjenige immer bleibet, was ein Volk vor dem
andern und mehr noch Einzelne vor andern einzelnen
voraus haben. Jſt es nicht moͤglich, Voͤlker aus ver-
ſchiedenen Welttheilen, Geſittete und Wilde, genau ge-
nug zu vergleichen, und ſich hiervon zu uͤberzeugen: ſo ſehe
man nur auf die Verſchiedenheit, die man in der Naͤhe
um ſich hat. Man wird dieſelbigen Reſultate finden,
wenn man ohne Vorurtheil beobachtet. Jch breche von
dieſer Materie hier ab, und ſchließe mit zwo Anmer-
kungen, die ſich von ſelbſt darbieten, wenn man noch-
mals auf den Menſchen in ſeinem Beſtreben nach Gluͤck-
ſeligkeit und Vollkommenheit und auf die Wirkung deſ-
ſelben einen Blick wirft.

11.

Man leget den Menſchen einen Naturtrieb zur
Gluͤckſeligkeit,
zu ſeiner Erhaltung, Vervoll-

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[821/0851] und Entwickelung des Menſchen. nahme zu machen iſt, wie bey der Entwickelung in Hin- ſicht derer, die nicht vollſtaͤndig organiſirt ſind. Es kommt auf eine Schaͤtzung an, wozu es uns an dem beſtimmten Maßſtab fehlet, und an dem Mittel ihn anzubringen. Daher mag auch das Reſultat bey meh- rern, die hieruͤber urtheilen, ſehr verſchieden ausfallen. Vorurtheile und Leidenſchaft und Phantaſie machen ei- ne genaue Vergleichung faſt unmoͤglich. Jndeſſen fin- det man, daß die Gefuͤhle des Lebens, der Wirkſamkeit, der Ruhe und des koͤrperlichen Wohlſeyns, welche die er- ſten Grundlagen aller Freuden ausmachen, durch die ganze Menſchheit verbreitet ſind, zu denen ſich auch Glaube und Hoffnung faſt allenthalben geſellet hat. Wenn man die Wirkungen hievon ſich etwas anſchauli- cher vorſtellet, und dann mit der Geſchichte vergleichet: ſo wird man ſich geneigt fuͤhlen, andern mehr Gleichheit mit uns einzuraͤumen, als die Einbildung beym erſten Blick fuͤr moͤglich haͤlt; ſo wichtig, alles unſers Be- muͤhens und Anſtrengens wuͤrdig und wuͤnſchenswerth auch dasjenige immer bleibet, was ein Volk vor dem andern und mehr noch Einzelne vor andern einzelnen voraus haben. Jſt es nicht moͤglich, Voͤlker aus ver- ſchiedenen Welttheilen, Geſittete und Wilde, genau ge- nug zu vergleichen, und ſich hiervon zu uͤberzeugen: ſo ſehe man nur auf die Verſchiedenheit, die man in der Naͤhe um ſich hat. Man wird dieſelbigen Reſultate finden, wenn man ohne Vorurtheil beobachtet. Jch breche von dieſer Materie hier ab, und ſchließe mit zwo Anmer- kungen, die ſich von ſelbſt darbieten, wenn man noch- mals auf den Menſchen in ſeinem Beſtreben nach Gluͤck- ſeligkeit und Vollkommenheit und auf die Wirkung deſ- ſelben einen Blick wirft. 11. Man leget den Menſchen einen Naturtrieb zur Gluͤckſeligkeit, zu ſeiner Erhaltung, Vervoll- komm- F f f 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 821. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/851>, abgerufen am 30.04.2024.