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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Und was durch unser eigenes willkürliches Bemühen sich
hierinn ausrichten läßt, weiß man aus bekannten Er-
fahrungen, da die aus Gewohnheiten entstandenen Ver-
schlimmerungen, wenn sie nur nicht gar zu sehr einge-
wurzelt sind, gehoben oder wenigstens etwas gemildert
werden können. Die Verstärkung des Gesichts in dem
Jäger, der weit in die Ferne sehen lernt, und in dem
Maler, der in der Nähe besser sieht, hängt doch auch
von der Uebung ab. Allein was die Stärke des Sin-
nes betrift, insoferne dieser ein Vermögen der Seele
ist, die mittelst des Organs entstandenen Eindrücke zu
fassen, und nach ihrer Verschiedenheit zu fassen, zu füh-
len und gewahrzunehmen: so ist solche etwas anders,
als die etwanige Verbesserung, die in den äußern Or-
ganen vor sich gehen mag. Wenn ein Kenner die klein-
sten Theile eines Gemäldes mit einem Blicke fasset, da-
von neun Zehntheile einem andern entwischen: so folget
daraus nicht, daß das Auge des erstern schärfer sey; so
wenig als bey dem Kräuterkenner die Vortreflichkeit des
Organs die Ursache davon ist, daß er die kleinen Merk-
zeichen der Pflanzen so leicht gewahr wird, die Andere
nur mit Mühe sehen, wenn sie von jenem gewiesen wer-
den. Dasselbige gilt von der Verfeinerung der übrigen
Sinne, des Gehörs, des Geruchs, des Geschmacks
und des Gefühls.

Beobachtet man diese Wirkungen der Uebung bey
den äußern Sinnen genauer, so kommt man auf ähnliche
Bemerkungen, wie oben, da der Anwachs in den thäti-
gen Vermögen betrachtet ward. Hat man aber von der
Art der Entwickelung oder Erhöhung bey den Sinnen
einen deutlichen Begrif, so ergiebt sich von selbsten, daß
man davon auf die übrigen Receptivitäten, Gefühlsar-
ten und auf die gesammte Empfindsamkeit eine An-
wendung machen könne. Es verhält sich bey der einen
Art der passiven Vermögen, wie bey der andern, und

wenn

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Und was durch unſer eigenes willkuͤrliches Bemuͤhen ſich
hierinn ausrichten laͤßt, weiß man aus bekannten Er-
fahrungen, da die aus Gewohnheiten entſtandenen Ver-
ſchlimmerungen, wenn ſie nur nicht gar zu ſehr einge-
wurzelt ſind, gehoben oder wenigſtens etwas gemildert
werden koͤnnen. Die Verſtaͤrkung des Geſichts in dem
Jaͤger, der weit in die Ferne ſehen lernt, und in dem
Maler, der in der Naͤhe beſſer ſieht, haͤngt doch auch
von der Uebung ab. Allein was die Staͤrke des Sin-
nes betrift, inſoferne dieſer ein Vermoͤgen der Seele
iſt, die mittelſt des Organs entſtandenen Eindruͤcke zu
faſſen, und nach ihrer Verſchiedenheit zu faſſen, zu fuͤh-
len und gewahrzunehmen: ſo iſt ſolche etwas anders,
als die etwanige Verbeſſerung, die in den aͤußern Or-
ganen vor ſich gehen mag. Wenn ein Kenner die klein-
ſten Theile eines Gemaͤldes mit einem Blicke faſſet, da-
von neun Zehntheile einem andern entwiſchen: ſo folget
daraus nicht, daß das Auge des erſtern ſchaͤrfer ſey; ſo
wenig als bey dem Kraͤuterkenner die Vortreflichkeit des
Organs die Urſache davon iſt, daß er die kleinen Merk-
zeichen der Pflanzen ſo leicht gewahr wird, die Andere
nur mit Muͤhe ſehen, wenn ſie von jenem gewieſen wer-
den. Daſſelbige gilt von der Verfeinerung der uͤbrigen
Sinne, des Gehoͤrs, des Geruchs, des Geſchmacks
und des Gefuͤhls.

Beobachtet man dieſe Wirkungen der Uebung bey
den aͤußern Sinnen genauer, ſo kommt man auf aͤhnliche
Bemerkungen, wie oben, da der Anwachs in den thaͤti-
gen Vermoͤgen betrachtet ward. Hat man aber von der
Art der Entwickelung oder Erhoͤhung bey den Sinnen
einen deutlichen Begrif, ſo ergiebt ſich von ſelbſten, daß
man davon auf die uͤbrigen Receptivitaͤten, Gefuͤhlsar-
ten und auf die geſammte Empfindſamkeit eine An-
wendung machen koͤnne. Es verhaͤlt ſich bey der einen
Art der paſſiven Vermoͤgen, wie bey der andern, und

wenn
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[414/0444] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Und was durch unſer eigenes willkuͤrliches Bemuͤhen ſich hierinn ausrichten laͤßt, weiß man aus bekannten Er- fahrungen, da die aus Gewohnheiten entſtandenen Ver- ſchlimmerungen, wenn ſie nur nicht gar zu ſehr einge- wurzelt ſind, gehoben oder wenigſtens etwas gemildert werden koͤnnen. Die Verſtaͤrkung des Geſichts in dem Jaͤger, der weit in die Ferne ſehen lernt, und in dem Maler, der in der Naͤhe beſſer ſieht, haͤngt doch auch von der Uebung ab. Allein was die Staͤrke des Sin- nes betrift, inſoferne dieſer ein Vermoͤgen der Seele iſt, die mittelſt des Organs entſtandenen Eindruͤcke zu faſſen, und nach ihrer Verſchiedenheit zu faſſen, zu fuͤh- len und gewahrzunehmen: ſo iſt ſolche etwas anders, als die etwanige Verbeſſerung, die in den aͤußern Or- ganen vor ſich gehen mag. Wenn ein Kenner die klein- ſten Theile eines Gemaͤldes mit einem Blicke faſſet, da- von neun Zehntheile einem andern entwiſchen: ſo folget daraus nicht, daß das Auge des erſtern ſchaͤrfer ſey; ſo wenig als bey dem Kraͤuterkenner die Vortreflichkeit des Organs die Urſache davon iſt, daß er die kleinen Merk- zeichen der Pflanzen ſo leicht gewahr wird, die Andere nur mit Muͤhe ſehen, wenn ſie von jenem gewieſen wer- den. Daſſelbige gilt von der Verfeinerung der uͤbrigen Sinne, des Gehoͤrs, des Geruchs, des Geſchmacks und des Gefuͤhls. Beobachtet man dieſe Wirkungen der Uebung bey den aͤußern Sinnen genauer, ſo kommt man auf aͤhnliche Bemerkungen, wie oben, da der Anwachs in den thaͤti- gen Vermoͤgen betrachtet ward. Hat man aber von der Art der Entwickelung oder Erhoͤhung bey den Sinnen einen deutlichen Begrif, ſo ergiebt ſich von ſelbſten, daß man davon auf die uͤbrigen Receptivitaͤten, Gefuͤhlsar- ten und auf die geſammte Empfindſamkeit eine An- wendung machen koͤnne. Es verhaͤlt ſich bey der einen Art der paſſiven Vermoͤgen, wie bey der andern, und wenn

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/444>, abgerufen am 26.04.2024.