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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Glückseeligkeit des Menschen.
nenhero der Mangel des Decori an einem
Bauer der es nicht weiß/ oder an einem armen
Menschen der sich z. e. in Kleidung nicht andern
gleich halten kan/ ihn an seiner Gemüths-Ruhe
in geringsten nicht hindern/ noch bey andern
vernünfftigen Leuten verhast und unangenehm
machen wird.

107.

Wenn es aber wegen einer Singulari-
tät unterlassen wird/ so ist es sreylich ein Ubel/
weil es genugsam zu verstehen giebt/ daß ein sol-
cher Mensch die wahre Gemüths-Ruhe nicht be-
sitze/ der keine indifferente complaisance für an-
dern Menschen haben wil/ theils weil er hiermit
keine Liebe andern Menschen erweiset/ theils weil
es viel irraisonnabler ist/ zu praetendiren/ daß
fich viele die eines gleichen seyn/ nach einen/ als
daß sich dieser nach vielen richten solle.

108. Und weil dannenhero es ohne offen-
bahre Singularität oder wohl gar ohne einer Lie-
be zur bestialität nicht abgehen kan/ wenn man
die Dinge die insgemein für schädlich ge-
halten werden
begehet/ wie die Cynici gethan;
als müssen wir zugleich einen Unterschied unter-
einem Menschen/ dem das Decorum mangelt/
und unter dem qui indecenter vivit, der unver-
schämt
lebet/ zu machen lernen/ und diesen letzten
unter die Zahl derer jenigen rechnen/ die die grö-
ste Glückseeligkeit nicht
besitzen.

109.

Daferne aber die Unterlassung des de
cori
aus einer irrigen Meinung/ als wenn

dassel-
G 4

Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
nenhero der Mangel des Decori an einem
Bauer der es nicht weiß/ oder an einem armen
Menſchen der ſich z. e. in Kleidung nicht andern
gleich halten kan/ ihn an ſeiner Gemuͤths-Ruhe
in geringſten nicht hindern/ noch bey andern
vernuͤnfftigen Leuten verhaſt und unangenehm
machen wird.

107.

Wenn es aber wegen einer Singulari-
taͤt unterlaſſen wird/ ſo iſt es ſreylich ein Ubel/
weil es genugſam zu verſtehen giebt/ daß ein ſol-
cher Menſch die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht be-
ſitze/ der keine indifferente complaiſance fuͤr an-
dern Menſchen haben wil/ theils weil er hiermit
keine Liebe andern Menſchen erweiſet/ theils weil
es viel irraiſonnabler iſt/ zu prætendiren/ daß
fich viele die eines gleichen ſeyn/ nach einen/ als
daß ſich dieſer nach vielen richten ſolle.

108. Und weil dannenhero es ohne offen-
bahre Singularitaͤt oder wohl gar ohne einer Lie-
be zur beſtialitaͤt nicht abgehen kan/ wenn man
die Dinge die insgemein fuͤr ſchaͤdlich ge-
halten werden
begehet/ wie die Cynici gethan;
als muͤſſen wir zugleich einen Unterſchied unter-
einem Menſchen/ dem das Decorum mangelt/
und unter dem qui indecenter vivit, der unver-
ſchaͤmt
lebet/ zu machen lernen/ und dieſen letzten
unter die Zahl derer jenigen rechnen/ die die groͤ-
ſte Gluͤckſeeligkeit nicht
beſitzen.

109.

Daferne aber die Unterlaſſung des de
cori
aus einer irrigen Meinung/ als wenn

daſſel-
G 4
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[103/0135] Gluͤckſeeligkeit des Menſchen. nenhero der Mangel des Decori an einem Bauer der es nicht weiß/ oder an einem armen Menſchen der ſich z. e. in Kleidung nicht andern gleich halten kan/ ihn an ſeiner Gemuͤths-Ruhe in geringſten nicht hindern/ noch bey andern vernuͤnfftigen Leuten verhaſt und unangenehm machen wird. 107. Wenn es aber wegen einer Singulari- taͤt unterlaſſen wird/ ſo iſt es ſreylich ein Ubel/ weil es genugſam zu verſtehen giebt/ daß ein ſol- cher Menſch die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht be- ſitze/ der keine indifferente complaiſance fuͤr an- dern Menſchen haben wil/ theils weil er hiermit keine Liebe andern Menſchen erweiſet/ theils weil es viel irraiſonnabler iſt/ zu prætendiren/ daß fich viele die eines gleichen ſeyn/ nach einen/ als daß ſich dieſer nach vielen richten ſolle. 108. Und weil dannenhero es ohne offen- bahre Singularitaͤt oder wohl gar ohne einer Lie- be zur beſtialitaͤt nicht abgehen kan/ wenn man die Dinge die insgemein fuͤr ſchaͤdlich ge- halten werden begehet/ wie die Cynici gethan; als muͤſſen wir zugleich einen Unterſchied unter- einem Menſchen/ dem das Decorum mangelt/ und unter dem qui indecenter vivit, der unver- ſchaͤmt lebet/ zu machen lernen/ und dieſen letzten unter die Zahl derer jenigen rechnen/ die die groͤ- ſte Gluͤckſeeligkeit nicht beſitzen. 109. Daferne aber die Unterlaſſung des de cori aus einer irrigen Meinung/ als wenn daſſel- G 4

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/135>, abgerufen am 26.04.2024.