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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

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Liebe.

Bey den meisten Menschen ist der Enthu-
siasmus für das Große und die Tugend nur
eine Vorbereitung zur Liebe, es ist derselbe
Trieb, der sich nur in die Allgemeinheit ver-
liert und Ideen sucht, weil er keinen Gegen-
stand vor sich hat: die Liebe verarbeitet die
Menschen eine Zeitlang und führt sie nachher
zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem sie
verständiger, aber auch weit größere Thoren
als vorher werden können. Es ist der Kreuz-
weg, auf dem die Meisten sich in verwickelten
Irrgängen verlieren und umzukehren glauben,
wenn sie immer tiefer in die Wildniß hinein-
rennen.

Mein Vater starb, als ich sechszehn Jahr
alt war, ein tauber Schmerz erdrückte und ver-
finsterte meinen Geist, ich glaubte alles verlo-
ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Mensch
beym ersten Verluste begeht, weil er noch nicht
in den Wechsel des Lebens eingelernt ist. -- Ich
trieb mich lange in der Einsamkeit herum, um
meinem Schmerze nachzuhängen und aus ihm
nach der ersten Betäubung eine Art von Kunst-

Liebe.

Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu-
ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur
eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe
Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver-
liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen-
ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die
Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher
zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie
verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren
als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz-
weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten
Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben,
wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein-
rennen.

Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr
alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver-
finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo-
ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch
beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht
in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich
trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um
meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm
nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-

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[405/0412] Liebe. Bey den meiſten Menſchen iſt der Enthu- ſiasmus fuͤr das Große und die Tugend nur eine Vorbereitung zur Liebe, es iſt derſelbe Trieb, der ſich nur in die Allgemeinheit ver- liert und Ideen ſucht, weil er keinen Gegen- ſtand vor ſich hat: die Liebe verarbeitet die Menſchen eine Zeitlang und fuͤhrt ſie nachher zur Sinnlichkeit, einem Wege, auf dem ſie verſtaͤndiger, aber auch weit groͤßere Thoren als vorher werden koͤnnen. Es iſt der Kreuz- weg, auf dem die Meiſten ſich in verwickelten Irrgaͤngen verlieren und umzukehren glauben, wenn ſie immer tiefer in die Wildniß hinein- rennen. Mein Vater ſtarb, als ich ſechszehn Jahr alt war, ein tauber Schmerz erdruͤckte und ver- finſterte meinen Geiſt, ich glaubte alles verlo- ren zu haben; ein Irrthum, den jeder Menſch beym erſten Verluſte begeht, weil er noch nicht in den Wechſel des Lebens eingelernt iſt. — Ich trieb mich lange in der Einſamkeit herum, um meinem Schmerze nachzuhaͤngen und aus ihm nach der erſten Betaͤubung eine Art von Kunſt-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/412>, abgerufen am 26.04.2024.