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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
noch nie so geliebt habe, daß er noch niemals so
glücklich gewesen sey. Zwischen den Brüsten ver-
steckt bemerkte er einen rothen Zindel; er war neu-
gierig zu erfahren, was es seyn möchte, er nahm
ihn und wickelte ihn aus einander. Da fand er
die drei kostbaren Ringe, die er seiner Geliebten
geschenkt hatte, und er war innig gerührt, daß sie
sie so liebevoll und sorgfältig bewahrte. Er wickelte
sie wieder ein, und legte sie neben sich in das Gras;
aber plötzlich flog der Rabe vom Baume hernieder
und führte den Zindel hinweg, den er für ein Stück
Fleisch ansehn mochte. Peter erschrack sehr und
besorgte, daß Magelone unwillig werden möchte,
wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er
legte ihr also sorgfältig seinen Mantel unter das
Haupt zusammen, und stand leise auf, um zu sehn,
wo der Vogel mit den Ringen bleiben würde. Der
Rabe flog vor ihm her, und Peter warf nach ihm
mit Steinen, in der Meinung ihn zu tödten,
oder ihn wenigstens zu zwingen, seinen Raub wie-
der fallen zu lassen. Aber der Vogel flog immer
weiter, und Peter verfolgte ihn unermüdet, doch
keiner von den Steinwürfen wollte den Raben
treffen. So war ihm Peter schon eine ziemliche
Weile gefolgt, und kam jetzt an das Meerufer.
Nicht weit vom Ufer stand im Meere eine spitzige
Klippe, auf diese setzte sich der Rabe, und Peter
warf von neuem nach ihm mit Steinen; der Vo-
gel ließ endlich den Zindel fallen, und flog mit gro-
ßem Geschrei davon. Peter sah im Meere nicht
weit vom Ufer roth den Zindel schwimmen; er ging

Erſte Abtheilung.
noch nie ſo geliebt habe, daß er noch niemals ſo
gluͤcklich geweſen ſey. Zwiſchen den Bruͤſten ver-
ſteckt bemerkte er einen rothen Zindel; er war neu-
gierig zu erfahren, was es ſeyn moͤchte, er nahm
ihn und wickelte ihn aus einander. Da fand er
die drei koſtbaren Ringe, die er ſeiner Geliebten
geſchenkt hatte, und er war innig geruͤhrt, daß ſie
ſie ſo liebevoll und ſorgfaͤltig bewahrte. Er wickelte
ſie wieder ein, und legte ſie neben ſich in das Gras;
aber ploͤtzlich flog der Rabe vom Baume hernieder
und fuͤhrte den Zindel hinweg, den er fuͤr ein Stuͤck
Fleiſch anſehn mochte. Peter erſchrack ſehr und
beſorgte, daß Magelone unwillig werden moͤchte,
wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er
legte ihr alſo ſorgfaͤltig ſeinen Mantel unter das
Haupt zuſammen, und ſtand leiſe auf, um zu ſehn,
wo der Vogel mit den Ringen bleiben wuͤrde. Der
Rabe flog vor ihm her, und Peter warf nach ihm
mit Steinen, in der Meinung ihn zu toͤdten,
oder ihn wenigſtens zu zwingen, ſeinen Raub wie-
der fallen zu laſſen. Aber der Vogel flog immer
weiter, und Peter verfolgte ihn unermuͤdet, doch
keiner von den Steinwuͤrfen wollte den Raben
treffen. So war ihm Peter ſchon eine ziemliche
Weile gefolgt, und kam jetzt an das Meerufer.
Nicht weit vom Ufer ſtand im Meere eine ſpitzige
Klippe, auf dieſe ſetzte ſich der Rabe, und Peter
warf von neuem nach ihm mit Steinen; der Vo-
gel ließ endlich den Zindel fallen, und flog mit gro-
ßem Geſchrei davon. Peter ſah im Meere nicht
weit vom Ufer roth den Zindel ſchwimmen; er ging

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[366/0377] Erſte Abtheilung. noch nie ſo geliebt habe, daß er noch niemals ſo gluͤcklich geweſen ſey. Zwiſchen den Bruͤſten ver- ſteckt bemerkte er einen rothen Zindel; er war neu- gierig zu erfahren, was es ſeyn moͤchte, er nahm ihn und wickelte ihn aus einander. Da fand er die drei koſtbaren Ringe, die er ſeiner Geliebten geſchenkt hatte, und er war innig geruͤhrt, daß ſie ſie ſo liebevoll und ſorgfaͤltig bewahrte. Er wickelte ſie wieder ein, und legte ſie neben ſich in das Gras; aber ploͤtzlich flog der Rabe vom Baume hernieder und fuͤhrte den Zindel hinweg, den er fuͤr ein Stuͤck Fleiſch anſehn mochte. Peter erſchrack ſehr und beſorgte, daß Magelone unwillig werden moͤchte, wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er legte ihr alſo ſorgfaͤltig ſeinen Mantel unter das Haupt zuſammen, und ſtand leiſe auf, um zu ſehn, wo der Vogel mit den Ringen bleiben wuͤrde. Der Rabe flog vor ihm her, und Peter warf nach ihm mit Steinen, in der Meinung ihn zu toͤdten, oder ihn wenigſtens zu zwingen, ſeinen Raub wie- der fallen zu laſſen. Aber der Vogel flog immer weiter, und Peter verfolgte ihn unermuͤdet, doch keiner von den Steinwuͤrfen wollte den Raben treffen. So war ihm Peter ſchon eine ziemliche Weile gefolgt, und kam jetzt an das Meerufer. Nicht weit vom Ufer ſtand im Meere eine ſpitzige Klippe, auf dieſe ſetzte ſich der Rabe, und Peter warf von neuem nach ihm mit Steinen; der Vo- gel ließ endlich den Zindel fallen, und flog mit gro- ßem Geſchrei davon. Peter ſah im Meere nicht weit vom Ufer roth den Zindel ſchwimmen; er ging

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/377>, abgerufen am 26.04.2024.