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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 12te Mai.
Wie wundervoll ist das Vermögen,
Gott! das du meinem Willen giebst!
O mögt ich es doch stets erwegen,
Mit welcher Güte du mich liebst!
Mögt ich mit allen Kräften dein,
Dein mit Verstand und Willen seyn.


Jch will jetzt lesen: so gleich ergreifet meine Hand das Buch,
und meine Augen thun die verlangten Dienste. Wie viele
Muskeln und Nerven werden damit in künstliche Bewegung ge-
setzt, ohne daß ich es verstehe, oder weiter etwas dazu beitrage,
als daß ich will. So will Gott und es geschieht.

Der Einfluß unsrer Seele in den Körper ist ein
Geheimniß für mich. Der Wille ist mein, aber die Ausführung
desselben hänget nicht blos von mir ab; denn ich weiß ja nicht ein-
mal, was alles dazu erfodert wird. Jch gebiete meiner Zunge
zu reden; aber wie sie es anfangen soll; wie stark und nach wel-
cher Seite sich jede kleine Muskel derselben bewegen, was Kehle,
Lippen und Zähne zu jedem Laute beitragen sollen: das alles ver-
stehe ich nicht und bewerkstellige es doch. O! das sind Spuren
der vollkommensten Weisheit, welche mich gebildet hat! Solte
ich nicht arbeiten, essen, verdauen nnd schlaffen können, als bis ich
die Regeln davon wüßte und genau ausübte: so wär ich die meiste
Zeit eine unbewegliche Maschine. Jch würde die viele Regeln
nicht begreifen, sondern vergessen, oder unrecht anwenden. Aller
dieser Arbeit überhob mich der allgütige Schöpfer. Jch bin ei-
nem Kinde gleich, welches eine künstliche Maschine drehet, und
sich über die Würkungen davon verwundert.

Verwundert? -- Wie soll ich es nennen! Jch bin alberner
als ein Kind; ich sehe göttliche Wunder an mir, ohne Neugier,

ohne
S 2


Der 12te Mai.
Wie wundervoll iſt das Vermoͤgen,
Gott! das du meinem Willen giebſt!
O moͤgt ich es doch ſtets erwegen,
Mit welcher Guͤte du mich liebſt!
Moͤgt ich mit allen Kraͤften dein,
Dein mit Verſtand und Willen ſeyn.


Jch will jetzt leſen: ſo gleich ergreifet meine Hand das Buch,
und meine Augen thun die verlangten Dienſte. Wie viele
Muskeln und Nerven werden damit in kuͤnſtliche Bewegung ge-
ſetzt, ohne daß ich es verſtehe, oder weiter etwas dazu beitrage,
als daß ich will. So will Gott und es geſchieht.

Der Einfluß unſrer Seele in den Koͤrper iſt ein
Geheimniß fuͤr mich. Der Wille iſt mein, aber die Ausfuͤhrung
deſſelben haͤnget nicht blos von mir ab; denn ich weiß ja nicht ein-
mal, was alles dazu erfodert wird. Jch gebiete meiner Zunge
zu reden; aber wie ſie es anfangen ſoll; wie ſtark und nach wel-
cher Seite ſich jede kleine Muskel derſelben bewegen, was Kehle,
Lippen und Zaͤhne zu jedem Laute beitragen ſollen: das alles ver-
ſtehe ich nicht und bewerkſtellige es doch. O! das ſind Spuren
der vollkommenſten Weisheit, welche mich gebildet hat! Solte
ich nicht arbeiten, eſſen, verdauen nnd ſchlaffen koͤnnen, als bis ich
die Regeln davon wuͤßte und genau ausuͤbte: ſo waͤr ich die meiſte
Zeit eine unbewegliche Maſchine. Jch wuͤrde die viele Regeln
nicht begreifen, ſondern vergeſſen, oder unrecht anwenden. Aller
dieſer Arbeit uͤberhob mich der allguͤtige Schoͤpfer. Jch bin ei-
nem Kinde gleich, welches eine kuͤnſtliche Maſchine drehet, und
ſich uͤber die Wuͤrkungen davon verwundert.

Verwundert? — Wie ſoll ich es nennen! Jch bin alberner
als ein Kind; ich ſehe goͤttliche Wunder an mir, ohne Neugier,

ohne
S 2
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[275[305]/0312] Der 12te Mai. Wie wundervoll iſt das Vermoͤgen, Gott! das du meinem Willen giebſt! O moͤgt ich es doch ſtets erwegen, Mit welcher Guͤte du mich liebſt! Moͤgt ich mit allen Kraͤften dein, Dein mit Verſtand und Willen ſeyn. Jch will jetzt leſen: ſo gleich ergreifet meine Hand das Buch, und meine Augen thun die verlangten Dienſte. Wie viele Muskeln und Nerven werden damit in kuͤnſtliche Bewegung ge- ſetzt, ohne daß ich es verſtehe, oder weiter etwas dazu beitrage, als daß ich will. So will Gott und es geſchieht. Der Einfluß unſrer Seele in den Koͤrper iſt ein Geheimniß fuͤr mich. Der Wille iſt mein, aber die Ausfuͤhrung deſſelben haͤnget nicht blos von mir ab; denn ich weiß ja nicht ein- mal, was alles dazu erfodert wird. Jch gebiete meiner Zunge zu reden; aber wie ſie es anfangen ſoll; wie ſtark und nach wel- cher Seite ſich jede kleine Muskel derſelben bewegen, was Kehle, Lippen und Zaͤhne zu jedem Laute beitragen ſollen: das alles ver- ſtehe ich nicht und bewerkſtellige es doch. O! das ſind Spuren der vollkommenſten Weisheit, welche mich gebildet hat! Solte ich nicht arbeiten, eſſen, verdauen nnd ſchlaffen koͤnnen, als bis ich die Regeln davon wuͤßte und genau ausuͤbte: ſo waͤr ich die meiſte Zeit eine unbewegliche Maſchine. Jch wuͤrde die viele Regeln nicht begreifen, ſondern vergeſſen, oder unrecht anwenden. Aller dieſer Arbeit uͤberhob mich der allguͤtige Schoͤpfer. Jch bin ei- nem Kinde gleich, welches eine kuͤnſtliche Maſchine drehet, und ſich uͤber die Wuͤrkungen davon verwundert. Verwundert? — Wie ſoll ich es nennen! Jch bin alberner als ein Kind; ich ſehe goͤttliche Wunder an mir, ohne Neugier, ohne S 2

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 275[305]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/312>, abgerufen am 08.05.2024.