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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 5te Junius.
Was ist dis Leben ohne Freunde?
Und auch: was wär es ohne Feinde?


Ohne Versuchung und Kampf findet auf Erden keine Tugend
statt, (höchstens wäre sie es im mindern Grade) so wenig
als jemand Held seyn kan, ohne jemals einen Feind gesehen zu
haben. Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, verlieren manche
Dinge ihr widriges, und werden wenigstens erträglicher.

Oft wünsche ich mir, gar keine Feinde zu haben, und be-
denke nicht, daß ich mit ihnen manche Gelegenheit, manchen
Reiz zur Tugend verlöre. Die nützlichen Feinde! Eine
gänzliche Windstille ist dem Schiffer gefährlich, und lauter
Freunde um mich her würden mit ihrer süssen Sprache mich ein-
schläfern. Da sie meistens nur das Echo meiner Gesinnungen
sind, so lerne ich mich unter ihnen nur sehr einseitig kennen. Aber
meine Fehler, welche sie sich zu sehen, oder mir vorzurücken, hü-
ten, entdecket mir sorgfältig mein Feind. Ganz unpartheiisch
sind sie wol beide nicht; der eine denkt zu gut, der andre zu schlecht
von mir: aber ich erfahre doch vom letztern, was mir meine
Eigenliebe verbarg. Das Protokoll ihrer sich widersprechenden
Aussagen giebet Licht in der verwirrten Sache meines Werths.

Ausserdem haben Feinde noch vielen Nutzen für uns. Sie
lehren behutsamer wandeln; erregen unsre Affekten, um unsre
Geduld, Menschenliebe und Großmuth zu prüfen; sie helfen uns
die Erde verleiden; (eine mächtige Reizung, den Himmel zu su-
chen!) ja, ohne sie erreichten wir den Gipfel christlicher Tugen-
den, die Liebe gegen Feinde, nicht. Jm Ganzen betrachtet ist

demnach
X 3


Der 5te Junius.
Was iſt dis Leben ohne Freunde?
Und auch: was waͤr es ohne Feinde?


Ohne Verſuchung und Kampf findet auf Erden keine Tugend
ſtatt, (hoͤchſtens waͤre ſie es im mindern Grade) ſo wenig
als jemand Held ſeyn kan, ohne jemals einen Feind geſehen zu
haben. Aus dieſem Geſichtspunkt betrachtet, verlieren manche
Dinge ihr widriges, und werden wenigſtens ertraͤglicher.

Oft wuͤnſche ich mir, gar keine Feinde zu haben, und be-
denke nicht, daß ich mit ihnen manche Gelegenheit, manchen
Reiz zur Tugend verloͤre. Die nuͤtzlichen Feinde! Eine
gaͤnzliche Windſtille iſt dem Schiffer gefaͤhrlich, und lauter
Freunde um mich her wuͤrden mit ihrer ſuͤſſen Sprache mich ein-
ſchlaͤfern. Da ſie meiſtens nur das Echo meiner Geſinnungen
ſind, ſo lerne ich mich unter ihnen nur ſehr einſeitig kennen. Aber
meine Fehler, welche ſie ſich zu ſehen, oder mir vorzuruͤcken, huͤ-
ten, entdecket mir ſorgfaͤltig mein Feind. Ganz unpartheiiſch
ſind ſie wol beide nicht; der eine denkt zu gut, der andre zu ſchlecht
von mir: aber ich erfahre doch vom letztern, was mir meine
Eigenliebe verbarg. Das Protokoll ihrer ſich widerſprechenden
Ausſagen giebet Licht in der verwirrten Sache meines Werths.

Auſſerdem haben Feinde noch vielen Nutzen fuͤr uns. Sie
lehren behutſamer wandeln; erregen unſre Affekten, um unſre
Geduld, Menſchenliebe und Großmuth zu pruͤfen; ſie helfen uns
die Erde verleiden; (eine maͤchtige Reizung, den Himmel zu ſu-
chen!) ja, ohne ſie erreichten wir den Gipfel chriſtlicher Tugen-
den, die Liebe gegen Feinde, nicht. Jm Ganzen betrachtet iſt

demnach
X 3
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[325[355]/0362] Der 5te Junius. Was iſt dis Leben ohne Freunde? Und auch: was waͤr es ohne Feinde? Ohne Verſuchung und Kampf findet auf Erden keine Tugend ſtatt, (hoͤchſtens waͤre ſie es im mindern Grade) ſo wenig als jemand Held ſeyn kan, ohne jemals einen Feind geſehen zu haben. Aus dieſem Geſichtspunkt betrachtet, verlieren manche Dinge ihr widriges, und werden wenigſtens ertraͤglicher. Oft wuͤnſche ich mir, gar keine Feinde zu haben, und be- denke nicht, daß ich mit ihnen manche Gelegenheit, manchen Reiz zur Tugend verloͤre. Die nuͤtzlichen Feinde! Eine gaͤnzliche Windſtille iſt dem Schiffer gefaͤhrlich, und lauter Freunde um mich her wuͤrden mit ihrer ſuͤſſen Sprache mich ein- ſchlaͤfern. Da ſie meiſtens nur das Echo meiner Geſinnungen ſind, ſo lerne ich mich unter ihnen nur ſehr einſeitig kennen. Aber meine Fehler, welche ſie ſich zu ſehen, oder mir vorzuruͤcken, huͤ- ten, entdecket mir ſorgfaͤltig mein Feind. Ganz unpartheiiſch ſind ſie wol beide nicht; der eine denkt zu gut, der andre zu ſchlecht von mir: aber ich erfahre doch vom letztern, was mir meine Eigenliebe verbarg. Das Protokoll ihrer ſich widerſprechenden Ausſagen giebet Licht in der verwirrten Sache meines Werths. Auſſerdem haben Feinde noch vielen Nutzen fuͤr uns. Sie lehren behutſamer wandeln; erregen unſre Affekten, um unſre Geduld, Menſchenliebe und Großmuth zu pruͤfen; ſie helfen uns die Erde verleiden; (eine maͤchtige Reizung, den Himmel zu ſu- chen!) ja, ohne ſie erreichten wir den Gipfel chriſtlicher Tugen- den, die Liebe gegen Feinde, nicht. Jm Ganzen betrachtet iſt demnach X 3

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 325[355]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/362>, abgerufen am 08.05.2024.