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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Sie ist nicht eine Tugend des Menschen, darum weil sie
seinen gesammten Willen nicht ausdrückt. Der Kluge re-
flectirt, räsonnirt über seine Aufgaben und Bestrebungen;
er ist schlau, wenn seine Berechnung ungewöhnliche
Mittel zu finden und complicirte Pläne darauf zu bauen
weiss; er ist aufgeklärt, klar und deutlich in seinen
Begriffen, wenn er gewisse und richtige abstracte Kenntnisse
über die äusseren Zusammenhänge der menschlichen Dinge
besitzt, und durch keine Gefühle oder Vorurtheile sich be-
irren lässt. Aus der Verbindung und Einigkeit dieser
Eigenschaften geht die Consequenz der Willkür und
ihrer Verwirklichungen hervor, welche daher wiederum als
eine Stärke, als seltene und bedeutende Eigenschaft be-
wundert, aber auch gefürchtet wird.

§ 16.

Etwas Anderes ist es, wenn diese Arten des Strebens,
und Willkür überhaupt, vom Wesenwillen aus beurtheilt
werden, wo sie doch nur als seine hochentwickelten Modi-
ficationen erscheinen. Nämlich: nun kann Alles, was ihm
im unmittelbaren und eigentlichen Sinne angehört, als
durchaus gut und freundlich sich darstellen, insofern als es
den Zusammenhang und die Einheit der Menschen aus-
drückt -- welche in der That, wie durch die Gestalt des
Leibes, so durch die der Seele oder des Willens, die einem
jeden solchen Wesen von Geburt an mitgegebene Substanz
seiner Art, bezeichnet wird --, hingegen das "egoistische"
Denken, wodurch das Princip der Individuation aufs Höchste
gesteigert ist, als durchaus feindselig und böse. Im Sinne
dieser Betrachtung, welche nicht richtig, aber tief begründet
ist, wird dann Gemüth oder Herz, auch Gesinnung und Ge-
wissen, mit Güte, als ob sie das nothwendige Attribut dazu
wäre, associirt; gilt dagegen der Berechnende und Bewusste,
weil für "herzlos" und "gewissenlos", so auch für schlecht
und böse, und Egoismus als gleichbedeutend mit gehässiger,
feindseliger Gesinnung. In Wahrheit ist der Egoist, je
vollkommener ausgeprägt, desto mehr gleichgültig gegen
Wohl und Wehe der Anderen; an ihrem Unheil ist ihm

Sie ist nicht eine Tugend des Menschen, darum weil sie
seinen gesammten Willen nicht ausdrückt. Der Kluge re-
flectirt, räsonnirt über seine Aufgaben und Bestrebungen;
er ist schlau, wenn seine Berechnung ungewöhnliche
Mittel zu finden und complicirte Pläne darauf zu bauen
weiss; er ist aufgeklärt, klar und deutlich in seinen
Begriffen, wenn er gewisse und richtige abstracte Kenntnisse
über die äusseren Zusammenhänge der menschlichen Dinge
besitzt, und durch keine Gefühle oder Vorurtheile sich be-
irren lässt. Aus der Verbindung und Einigkeit dieser
Eigenschaften geht die Consequenz der Willkür und
ihrer Verwirklichungen hervor, welche daher wiederum als
eine Stärke, als seltene und bedeutende Eigenschaft be-
wundert, aber auch gefürchtet wird.

§ 16.

Etwas Anderes ist es, wenn diese Arten des Strebens,
und Willkür überhaupt, vom Wesenwillen aus beurtheilt
werden, wo sie doch nur als seine hochentwickelten Modi-
ficationen erscheinen. Nämlich: nun kann Alles, was ihm
im unmittelbaren und eigentlichen Sinne angehört, als
durchaus gut und freundlich sich darstellen, insofern als es
den Zusammenhang und die Einheit der Menschen aus-
drückt — welche in der That, wie durch die Gestalt des
Leibes, so durch die der Seele oder des Willens, die einem
jeden solchen Wesen von Geburt an mitgegebene Substanz
seiner Art, bezeichnet wird —, hingegen das »egoistische«
Denken, wodurch das Princip der Individuation aufs Höchste
gesteigert ist, als durchaus feindselig und böse. Im Sinne
dieser Betrachtung, welche nicht richtig, aber tief begründet
ist, wird dann Gemüth oder Herz, auch Gesinnung und Ge-
wissen, mit Güte, als ob sie das nothwendige Attribut dazu
wäre, associirt; gilt dagegen der Berechnende und Bewusste,
weil für »herzlos« und »gewissenlos«, so auch für schlecht
und böse, und Egoismus als gleichbedeutend mit gehässiger,
feindseliger Gesinnung. In Wahrheit ist der Egoist, je
vollkommener ausgeprägt, desto mehr gleichgültig gegen
Wohl und Wehe der Anderen; an ihrem Unheil ist ihm

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[136/0172] Sie ist nicht eine Tugend des Menschen, darum weil sie seinen gesammten Willen nicht ausdrückt. Der Kluge re- flectirt, räsonnirt über seine Aufgaben und Bestrebungen; er ist schlau, wenn seine Berechnung ungewöhnliche Mittel zu finden und complicirte Pläne darauf zu bauen weiss; er ist aufgeklärt, klar und deutlich in seinen Begriffen, wenn er gewisse und richtige abstracte Kenntnisse über die äusseren Zusammenhänge der menschlichen Dinge besitzt, und durch keine Gefühle oder Vorurtheile sich be- irren lässt. Aus der Verbindung und Einigkeit dieser Eigenschaften geht die Consequenz der Willkür und ihrer Verwirklichungen hervor, welche daher wiederum als eine Stärke, als seltene und bedeutende Eigenschaft be- wundert, aber auch gefürchtet wird. § 16. Etwas Anderes ist es, wenn diese Arten des Strebens, und Willkür überhaupt, vom Wesenwillen aus beurtheilt werden, wo sie doch nur als seine hochentwickelten Modi- ficationen erscheinen. Nämlich: nun kann Alles, was ihm im unmittelbaren und eigentlichen Sinne angehört, als durchaus gut und freundlich sich darstellen, insofern als es den Zusammenhang und die Einheit der Menschen aus- drückt — welche in der That, wie durch die Gestalt des Leibes, so durch die der Seele oder des Willens, die einem jeden solchen Wesen von Geburt an mitgegebene Substanz seiner Art, bezeichnet wird —, hingegen das »egoistische« Denken, wodurch das Princip der Individuation aufs Höchste gesteigert ist, als durchaus feindselig und böse. Im Sinne dieser Betrachtung, welche nicht richtig, aber tief begründet ist, wird dann Gemüth oder Herz, auch Gesinnung und Ge- wissen, mit Güte, als ob sie das nothwendige Attribut dazu wäre, associirt; gilt dagegen der Berechnende und Bewusste, weil für »herzlos« und »gewissenlos«, so auch für schlecht und böse, und Egoismus als gleichbedeutend mit gehässiger, feindseliger Gesinnung. In Wahrheit ist der Egoist, je vollkommener ausgeprägt, desto mehr gleichgültig gegen Wohl und Wehe der Anderen; an ihrem Unheil ist ihm

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/172>, abgerufen am 26.04.2024.