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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Widerstandes oder des stärksten Zuges, eine freie und
nothwendige zugleich: frei, indem seine jedesmalige Lage
und Richtung durch seine eigene Kraft und sein Moment;
nothwendig, indem sie durch andere, fremde Kräfte und
Momente bestimmt ist. So sind auch die höchst geistigen
und vernünftigen Bewegungen der Menschen, zum Theil
aus ihrem eigenen Willen, aber zum Theile aus dem Druck
der Umstände zu erklären; und insofern als er diesem
unterliegt, ist der Wille unfrei oder gezwungen. Dass aber
Nichts -- weder ein Ding und seine Beschaffenheit, also
auch keine Willens- oder Willkürform; noch eine Bewegung
oder ein Willensact -- in dem Sinne frei könne genannt
werden, als ob es durch die Vollkommenheit seiner inneren
und äusseren Bedingungen nicht in jedem Zeittheilchen
auf vollkommene Weise bedingt und bestimmt wäre: dies
wird hier als verstandene logisch-apriorische Wahrheit vor-
ausgesetzt. Die wirkliche Freiheit des Willens besteht in
seinem Dasein, welches ein Modus der unter dem psychischen
Attribute verstandenen unendlichen, unbegreiflichen, unverur-
sachten Substanz ist; aber nicht insofern es Modalität, son-
dern insofern als es selber substantiell ist. Ausserdem
gibt es eine imaginäre Freiheit für das Denken des Men-
schen, insofern er seine Handlungen und Unterlassungen
als Objecte denkt, zwischen denen als zu ergreifenden er
wählen könne, oder insofern er seinen Willen selber macht
und zusammensetzt, also in Wahrheit als Herr und freier
Schöpfer dieser seiner Gedanken-Creatur gegenüberstehend
gedacht wird.


Widerstandes oder des stärksten Zuges, eine freie und
nothwendige zugleich: frei, indem seine jedesmalige Lage
und Richtung durch seine eigene Kraft und sein Moment;
nothwendig, indem sie durch andere, fremde Kräfte und
Momente bestimmt ist. So sind auch die höchst geistigen
und vernünftigen Bewegungen der Menschen, zum Theil
aus ihrem eigenen Willen, aber zum Theile aus dem Druck
der Umstände zu erklären; und insofern als er diesem
unterliegt, ist der Wille unfrei oder gezwungen. Dass aber
Nichts — weder ein Ding und seine Beschaffenheit, also
auch keine Willens- oder Willkürform; noch eine Bewegung
oder ein Willensact — in dem Sinne frei könne genannt
werden, als ob es durch die Vollkommenheit seiner inneren
und äusseren Bedingungen nicht in jedem Zeittheilchen
auf vollkommene Weise bedingt und bestimmt wäre: dies
wird hier als verstandene logisch-apriorische Wahrheit vor-
ausgesetzt. Die wirkliche Freiheit des Willens besteht in
seinem Dasein, welches ein Modus der unter dem psychischen
Attribute verstandenen unendlichen, unbegreiflichen, unverur-
sachten Substanz ist; aber nicht insofern es Modalität, son-
dern insofern als es selber substantiell ist. Ausserdem
gibt es eine imaginäre Freiheit für das Denken des Men-
schen, insofern er seine Handlungen und Unterlassungen
als Objecte denkt, zwischen denen als zu ergreifenden er
wählen könne, oder insofern er seinen Willen selber macht
und zusammensetzt, also in Wahrheit als Herr und freier
Schöpfer dieser seiner Gedanken-Creatur gegenüberstehend
gedacht wird.


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[166/0202] Widerstandes oder des stärksten Zuges, eine freie und nothwendige zugleich: frei, indem seine jedesmalige Lage und Richtung durch seine eigene Kraft und sein Moment; nothwendig, indem sie durch andere, fremde Kräfte und Momente bestimmt ist. So sind auch die höchst geistigen und vernünftigen Bewegungen der Menschen, zum Theil aus ihrem eigenen Willen, aber zum Theile aus dem Druck der Umstände zu erklären; und insofern als er diesem unterliegt, ist der Wille unfrei oder gezwungen. Dass aber Nichts — weder ein Ding und seine Beschaffenheit, also auch keine Willens- oder Willkürform; noch eine Bewegung oder ein Willensact — in dem Sinne frei könne genannt werden, als ob es durch die Vollkommenheit seiner inneren und äusseren Bedingungen nicht in jedem Zeittheilchen auf vollkommene Weise bedingt und bestimmt wäre: dies wird hier als verstandene logisch-apriorische Wahrheit vor- ausgesetzt. Die wirkliche Freiheit des Willens besteht in seinem Dasein, welches ein Modus der unter dem psychischen Attribute verstandenen unendlichen, unbegreiflichen, unverur- sachten Substanz ist; aber nicht insofern es Modalität, son- dern insofern als es selber substantiell ist. Ausserdem gibt es eine imaginäre Freiheit für das Denken des Men- schen, insofern er seine Handlungen und Unterlassungen als Objecte denkt, zwischen denen als zu ergreifenden er wählen könne, oder insofern er seinen Willen selber macht und zusammensetzt, also in Wahrheit als Herr und freier Schöpfer dieser seiner Gedanken-Creatur gegenüberstehend gedacht wird.

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/202>, abgerufen am 26.04.2024.