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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Opfern und Spenden, von der anderen (der göttlichen) Gunst,
Schutz und Hülfe entgegengebracht wird; das väterliche oder
mütterliche Walten ist der Grund und Ursprung des gött-
lichen und alles gottähnlichen Waltens und bleibet darinnen
als seine Wahrheit. Religion ist sodann selber ein Stück
der Sitte, durch das Herkommen, Ueberlieferung und Alter
als wirklich und nothwendig gegeben, worin das einzelne
Menschenkind geboren und erzogen wird, wie in die Mund-
art seiner Sprache, wie in die Lebensweise, der Kleidung,
Speise und Trankes, welche seiner Heimath gewohnt ist:
Glaube der Väter, Glaube und Brauch, erbliche Empfindung
und Pflicht. -- Wiederum hat und behält Religion überall
und in ihrer höchsten Entwicklung alle eigentlichen Wirkun-
gen in Gemüth und Gewissen der Menschen, durch die
Weihe, welche sie den Ereignissen des Familienlebens: der
ehelichen Gemeinschaft, der Freude über die Neugeborenen,
der Traurigkeit um die Hingeschiedenen, verleihet. Und
ebenso heiligt sie das Gemeinwesen, erhöht und befestigt
die Geltung des Rechtes: als Wille der Alten und der Vor-
fahren ist es schon würdig und wichtig, als Wille der Götter
wird es noch gewaltiger und gewisser. So fordert und
erzeugt die frühere Anschauung die spätere, wirkt die spä-
tere auf die frühere zurück. Das religiöse Gemeinwesen
ist insonderheit Darstellung der ursprünglichen Einheit und
Gleichheit eines ganzen Volkes, das Volk als eine Familie,
das Gedächtniss seiner Verwandtschaft durch gemeinsame
Culte und Stätten festhaltend. Dies ist es in seiner extensiven
Bedeutung; seine intensive Kraft hat es am stärksten als
städtisches Gemeinwesen, als worin die Wichtigkeit des
Glaubens und der Deutung göttlichen Willens, den Inhalt
der Sitte zu ergänzen, für verwickeltere Zustände des Lebens
zu modificiren und zum Theile zu ersetzen, in entschiedener
Weise hervortritt. Dies geschieht ganz hauptsächlich durch
den Gebrauch des Eides: worin die Gegenwart des gött-
lichen Wesens mehr als furchtbare, denn als geliebte, her-
beigerufen wird, damit sie zur Treue und zur Wahrhaftig-
keit ermahne, Betrug und Lüge rächen möge. Und so wird
man nicht irre gehen, wenn man in der Ehe, als dem
Schwerpunkt des Familienwesens, der Eintracht männlichen

Opfern und Spenden, von der anderen (der göttlichen) Gunst,
Schutz und Hülfe entgegengebracht wird; das väterliche oder
mütterliche Walten ist der Grund und Ursprung des gött-
lichen und alles gottähnlichen Waltens und bleibet darinnen
als seine Wahrheit. Religion ist sodann selber ein Stück
der Sitte, durch das Herkommen, Ueberlieferung und Alter
als wirklich und nothwendig gegeben, worin das einzelne
Menschenkind geboren und erzogen wird, wie in die Mund-
art seiner Sprache, wie in die Lebensweise, der Kleidung,
Speise und Trankes, welche seiner Heimath gewohnt ist:
Glaube der Väter, Glaube und Brauch, erbliche Empfindung
und Pflicht. — Wiederum hat und behält Religion überall
und in ihrer höchsten Entwicklung alle eigentlichen Wirkun-
gen in Gemüth und Gewissen der Menschen, durch die
Weihe, welche sie den Ereignissen des Familienlebens: der
ehelichen Gemeinschaft, der Freude über die Neugeborenen,
der Traurigkeit um die Hingeschiedenen, verleihet. Und
ebenso heiligt sie das Gemeinwesen, erhöht und befestigt
die Geltung des Rechtes: als Wille der Alten und der Vor-
fahren ist es schon würdig und wichtig, als Wille der Götter
wird es noch gewaltiger und gewisser. So fordert und
erzeugt die frühere Anschauung die spätere, wirkt die spä-
tere auf die frühere zurück. Das religiöse Gemeinwesen
ist insonderheit Darstellung der ursprünglichen Einheit und
Gleichheit eines ganzen Volkes, das Volk als eine Familie,
das Gedächtniss seiner Verwandtschaft durch gemeinsame
Culte und Stätten festhaltend. Dies ist es in seiner extensiven
Bedeutung; seine intensive Kraft hat es am stärksten als
städtisches Gemeinwesen, als worin die Wichtigkeit des
Glaubens und der Deutung göttlichen Willens, den Inhalt
der Sitte zu ergänzen, für verwickeltere Zustände des Lebens
zu modificiren und zum Theile zu ersetzen, in entschiedener
Weise hervortritt. Dies geschieht ganz hauptsächlich durch
den Gebrauch des Eides: worin die Gegenwart des gött-
lichen Wesens mehr als furchtbare, denn als geliebte, her-
beigerufen wird, damit sie zur Treue und zur Wahrhaftig-
keit ermahne, Betrug und Lüge rächen möge. Und so wird
man nicht irre gehen, wenn man in der Ehe, als dem
Schwerpunkt des Familienwesens, der Eintracht männlichen

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[269/0305] Opfern und Spenden, von der anderen (der göttlichen) Gunst, Schutz und Hülfe entgegengebracht wird; das väterliche oder mütterliche Walten ist der Grund und Ursprung des gött- lichen und alles gottähnlichen Waltens und bleibet darinnen als seine Wahrheit. Religion ist sodann selber ein Stück der Sitte, durch das Herkommen, Ueberlieferung und Alter als wirklich und nothwendig gegeben, worin das einzelne Menschenkind geboren und erzogen wird, wie in die Mund- art seiner Sprache, wie in die Lebensweise, der Kleidung, Speise und Trankes, welche seiner Heimath gewohnt ist: Glaube der Väter, Glaube und Brauch, erbliche Empfindung und Pflicht. — Wiederum hat und behält Religion überall und in ihrer höchsten Entwicklung alle eigentlichen Wirkun- gen in Gemüth und Gewissen der Menschen, durch die Weihe, welche sie den Ereignissen des Familienlebens: der ehelichen Gemeinschaft, der Freude über die Neugeborenen, der Traurigkeit um die Hingeschiedenen, verleihet. Und ebenso heiligt sie das Gemeinwesen, erhöht und befestigt die Geltung des Rechtes: als Wille der Alten und der Vor- fahren ist es schon würdig und wichtig, als Wille der Götter wird es noch gewaltiger und gewisser. So fordert und erzeugt die frühere Anschauung die spätere, wirkt die spä- tere auf die frühere zurück. Das religiöse Gemeinwesen ist insonderheit Darstellung der ursprünglichen Einheit und Gleichheit eines ganzen Volkes, das Volk als eine Familie, das Gedächtniss seiner Verwandtschaft durch gemeinsame Culte und Stätten festhaltend. Dies ist es in seiner extensiven Bedeutung; seine intensive Kraft hat es am stärksten als städtisches Gemeinwesen, als worin die Wichtigkeit des Glaubens und der Deutung göttlichen Willens, den Inhalt der Sitte zu ergänzen, für verwickeltere Zustände des Lebens zu modificiren und zum Theile zu ersetzen, in entschiedener Weise hervortritt. Dies geschieht ganz hauptsächlich durch den Gebrauch des Eides: worin die Gegenwart des gött- lichen Wesens mehr als furchtbare, denn als geliebte, her- beigerufen wird, damit sie zur Treue und zur Wahrhaftig- keit ermahne, Betrug und Lüge rächen möge. Und so wird man nicht irre gehen, wenn man in der Ehe, als dem Schwerpunkt des Familienwesens, der Eintracht männlichen

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/305>, abgerufen am 26.04.2024.