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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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IV. Entwickelung des individuellen Thieres.
Urstoff und 2. die Uridee des speciellen, darzustellenden, thieri-
schen Individuums, durch welche die von aussen zu dem Wachs-
thume und der Ausbildung herbeizuführenden Stoffe nach den
bestimmten individuellen Verhältnissen umgeändert werden. Diese
beiden Seiten des Verhältnisses sind in und durch einander be-
dingt. Das Blastem des neuen Wesens muss schon eigenthümlich
organisirt seyn, um dieses oder jenes Individuum unter den noth-
wendigen, begünstigenden Verhältnissen zu erzeugen. Eine form-
lose, allen beliebigen späteren Individualitäten zum Grunde lie-
gende Materie ist ein blosses Abstractum des Geistes und existirt
nirgends in der Natur, wo es nur Concreta, mehr oder minder
charakteristische und in einem höheren Ganzen enthaltene Indi-
vidualitäten giebt. Der bestimmte Urstoff wird zu der bestimm-
ten Individualität, doch im Laufe der Zeit, geleitet durch die
Uridee des Thieres überhaupt und der singulären thierischen Indivi-
dualität insbesondere, welches hier in den verschiedenen Zeitmomen-
ten sich eben so kund giebt, als in der Thierwelt überhaupt in dem
räumlichen Nebeneinanderseyn. Nothwendig erscheint aber die
Metamorphose der Uridee in beiden Verhältnissen verändert.
Zwar stehen in beiden Uridee als höchstes Abstractum und Indi-
vidualität als höchstes Concretum einander gegenüber; in beiden
ist die letztere die reale Existenz, die erstere die ideelle Verbin-
dung. In der Thierwelt ist aber der Charakter des speciellen
Thieres bleibend und für jedes specielle Individuum bestimmt
fixirt. In dem Embryo ist der Individualitätsgrad wechselnd,
zeitlich gesetzt. Die Metamorphosen der Uridee des Thieres ha-
ben in der Thierwelt einen bei weitem grösseren Umfang, eine
grössere Mannigfaltigkeit als in denen der individuellen Entwicke-
lungsgeschichte. Alle Zweige derselben sind dort in das Einzelne
verfolgt, alle singulären Momente in einer Reihe verschiedenartiger
Formen fixirt, und jede Abtheilung höherer oder niederer Ord-
nung wird auf das Freieste, Breiteste und Vollständigste nach al-
len Seiten hin ausgeführt und in bestimmten Gestalten dargestellt.
Nicht so in der individuellen Entwickelungsgeschichte. Jede all-
seitige Metamorphosirung der Uridee wird hier durch die Kraft
der bestimmten Individualität gefesselt. Diese ist einziges und
Hauptziel und jeder scheinbare Seitenweg ist nur der Vorläufer
der individuellen Bildung dieses oder jenes Theiles, wie es der
darzustellenden Individualität gemäss ist. Beiden Reihen ist die

IV. Entwickelung des individuellen Thieres.
Urstoff und 2. die Uridee des speciellen, darzustellenden, thieri-
schen Individuums, durch welche die von auſsen zu dem Wachs-
thume und der Ausbildung herbeizuführenden Stoffe nach den
bestimmten individuellen Verhältnissen umgeändert werden. Diese
beiden Seiten des Verhältnisses sind in und durch einander be-
dingt. Das Blastem des neuen Wesens muſs schon eigenthümlich
organisirt seyn, um dieses oder jenes Individuum unter den noth-
wendigen, begünstigenden Verhältnissen zu erzeugen. Eine form-
lose, allen beliebigen späteren Individualitäten zum Grunde lie-
gende Materie ist ein bloſses Abstractum des Geistes und existirt
nirgends in der Natur, wo es nur Concreta, mehr oder minder
charakteristische und in einem höheren Ganzen enthaltene Indi-
vidualitäten giebt. Der bestimmte Urstoff wird zu der bestimm-
ten Individualität, doch im Laufe der Zeit, geleitet durch die
Uridee des Thieres überhaupt und der singulären thierischen Indivi-
dualität insbesondere, welches hier in den verschiedenen Zeitmomen-
ten sich eben so kund giebt, als in der Thierwelt überhaupt in dem
räumlichen Nebeneinanderseyn. Nothwendig erscheint aber die
Metamorphose der Uridee in beiden Verhältnissen verändert.
Zwar stehen in beiden Uridee als höchstes Abstractum und Indi-
vidualität als höchstes Concretum einander gegenüber; in beiden
ist die letztere die reale Existenz, die erstere die ideelle Verbin-
dung. In der Thierwelt ist aber der Charakter des speciellen
Thieres bleibend und für jedes specielle Individuum bestimmt
fixirt. In dem Embryo ist der Individualitätsgrad wechselnd,
zeitlich gesetzt. Die Metamorphosen der Uridee des Thieres ha-
ben in der Thierwelt einen bei weitem gröſseren Umfang, eine
gröſsere Mannigfaltigkeit als in denen der individuellen Entwicke-
lungsgeschichte. Alle Zweige derselben sind dort in das Einzelne
verfolgt, alle singulären Momente in einer Reihe verschiedenartiger
Formen fixirt, und jede Abtheilung höherer oder niederer Ord-
nung wird auf das Freieste, Breiteste und Vollständigste nach al-
len Seiten hin ausgeführt und in bestimmten Gestalten dargestellt.
Nicht so in der individuellen Entwickelungsgeschichte. Jede all-
seitige Metamorphosirung der Uridee wird hier durch die Kraft
der bestimmten Individualität gefesselt. Diese ist einziges und
Hauptziel und jeder scheinbare Seitenweg ist nur der Vorläufer
der individuellen Bildung dieses oder jenes Theiles, wie es der
darzustellenden Individualität gemäſs ist. Beiden Reihen ist die

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[591/0619] IV. Entwickelung des individuellen Thieres. Urstoff und 2. die Uridee des speciellen, darzustellenden, thieri- schen Individuums, durch welche die von auſsen zu dem Wachs- thume und der Ausbildung herbeizuführenden Stoffe nach den bestimmten individuellen Verhältnissen umgeändert werden. Diese beiden Seiten des Verhältnisses sind in und durch einander be- dingt. Das Blastem des neuen Wesens muſs schon eigenthümlich organisirt seyn, um dieses oder jenes Individuum unter den noth- wendigen, begünstigenden Verhältnissen zu erzeugen. Eine form- lose, allen beliebigen späteren Individualitäten zum Grunde lie- gende Materie ist ein bloſses Abstractum des Geistes und existirt nirgends in der Natur, wo es nur Concreta, mehr oder minder charakteristische und in einem höheren Ganzen enthaltene Indi- vidualitäten giebt. Der bestimmte Urstoff wird zu der bestimm- ten Individualität, doch im Laufe der Zeit, geleitet durch die Uridee des Thieres überhaupt und der singulären thierischen Indivi- dualität insbesondere, welches hier in den verschiedenen Zeitmomen- ten sich eben so kund giebt, als in der Thierwelt überhaupt in dem räumlichen Nebeneinanderseyn. Nothwendig erscheint aber die Metamorphose der Uridee in beiden Verhältnissen verändert. Zwar stehen in beiden Uridee als höchstes Abstractum und Indi- vidualität als höchstes Concretum einander gegenüber; in beiden ist die letztere die reale Existenz, die erstere die ideelle Verbin- dung. In der Thierwelt ist aber der Charakter des speciellen Thieres bleibend und für jedes specielle Individuum bestimmt fixirt. In dem Embryo ist der Individualitätsgrad wechselnd, zeitlich gesetzt. Die Metamorphosen der Uridee des Thieres ha- ben in der Thierwelt einen bei weitem gröſseren Umfang, eine gröſsere Mannigfaltigkeit als in denen der individuellen Entwicke- lungsgeschichte. Alle Zweige derselben sind dort in das Einzelne verfolgt, alle singulären Momente in einer Reihe verschiedenartiger Formen fixirt, und jede Abtheilung höherer oder niederer Ord- nung wird auf das Freieste, Breiteste und Vollständigste nach al- len Seiten hin ausgeführt und in bestimmten Gestalten dargestellt. Nicht so in der individuellen Entwickelungsgeschichte. Jede all- seitige Metamorphosirung der Uridee wird hier durch die Kraft der bestimmten Individualität gefesselt. Diese ist einziges und Hauptziel und jeder scheinbare Seitenweg ist nur der Vorläufer der individuellen Bildung dieses oder jenes Theiles, wie es der darzustellenden Individualität gemäſs ist. Beiden Reihen ist die

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/619>, abgerufen am 26.04.2024.