Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

bestritten gelten lassen, und müßten, wenn darin wirklich
Napoleons von Goethe zugestandene Bemerkung bestehen
sollte, auch diesen beiden Autoritäten fürerst noch zwei¬
felnd gegenüber bleiben. Auch über die Wahlverwandt¬
schaften sagt der Verfasser Würdiges und Klares, woran
viel albernes Geschrei, das man noch heutiges Tages
über das angeblich Unsittliche dieses Romans verführt,
völlig zerschellen muß. In Wilhelm Meisters Lehr¬
jahren eine Verlaufsähnlichkeit mit dem Alten Testa¬
mente zu finden, wo denn für die Wanderjahre, was
zwar nicht ausdrücklich gesagt ist, das Neue Testament
zur Vergleichung sich von selbst bietet, ist wenigstens
neu und seltsam genug; der Verfasser wird uns erlau¬
ben, erst mehrmals Athem zu holen, ehe wir über
einen solchen Gegenstand mitreden. Das verfehlteste
Wort scheint uns das über Eugenien, mit welcher eine
Art Apologie der mittlern Stände gemeint sein soll.

Ueber den Faust, den eigentlichen Gegenstand der
Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten
die Kernbemerkung, der Dichter lege in diesem Werke
nicht das Geständniß ab: so sei der Mensch, weil
er so sein müsse
; sondern habe nur sagen wollen:
so sei der Mensch, weil er die Freiheit sich
nimmt
, es zu sein, ohne zu müssen. Doch wird
jetzt, da das vollendete Gedicht unsern Augen und
unserm Nachdenken eröffnet liegt, die Kritik dieses kolos¬
salen Werkes einen ganz neuen Aufschwung zu nehmen

beſtritten gelten laſſen, und muͤßten, wenn darin wirklich
Napoleons von Goethe zugeſtandene Bemerkung beſtehen
ſollte, auch dieſen beiden Autoritaͤten fuͤrerſt noch zwei¬
felnd gegenuͤber bleiben. Auch uͤber die Wahlverwandt¬
ſchaften ſagt der Verfaſſer Wuͤrdiges und Klares, woran
viel albernes Geſchrei, das man noch heutiges Tages
uͤber das angeblich Unſittliche dieſes Romans verfuͤhrt,
voͤllig zerſchellen muß. In Wilhelm Meiſters Lehr¬
jahren eine Verlaufsaͤhnlichkeit mit dem Alten Teſta¬
mente zu finden, wo denn fuͤr die Wanderjahre, was
zwar nicht ausdruͤcklich geſagt iſt, das Neue Teſtament
zur Vergleichung ſich von ſelbſt bietet, iſt wenigſtens
neu und ſeltſam genug; der Verfaſſer wird uns erlau¬
ben, erſt mehrmals Athem zu holen, ehe wir uͤber
einen ſolchen Gegenſtand mitreden. Das verfehlteſte
Wort ſcheint uns das uͤber Eugenien, mit welcher eine
Art Apologie der mittlern Staͤnde gemeint ſein ſoll.

Ueber den Fauſt, den eigentlichen Gegenſtand der
Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten
die Kernbemerkung, der Dichter lege in dieſem Werke
nicht das Geſtaͤndniß ab: ſo ſei der Menſch, weil
er ſo ſein muͤſſe
; ſondern habe nur ſagen wollen:
ſo ſei der Menſch, weil er die Freiheit ſich
nimmt
, es zu ſein, ohne zu muͤſſen. Doch wird
jetzt, da das vollendete Gedicht unſern Augen und
unſerm Nachdenken eroͤffnet liegt, die Kritik dieſes koloſ¬
ſalen Werkes einen ganz neuen Aufſchwung zu nehmen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0404" n="390"/>
be&#x017F;tritten gelten la&#x017F;&#x017F;en, und mu&#x0364;ßten, wenn darin wirklich<lb/>
Napoleons von Goethe zuge&#x017F;tandene Bemerkung be&#x017F;tehen<lb/>
&#x017F;ollte, auch die&#x017F;en beiden Autorita&#x0364;ten fu&#x0364;rer&#x017F;t noch zwei¬<lb/>
felnd gegenu&#x0364;ber bleiben. Auch u&#x0364;ber die Wahlverwandt¬<lb/>
&#x017F;chaften &#x017F;agt der Verfa&#x017F;&#x017F;er Wu&#x0364;rdiges und Klares, woran<lb/>
viel albernes Ge&#x017F;chrei, das man noch heutiges Tages<lb/>
u&#x0364;ber das angeblich Un&#x017F;ittliche die&#x017F;es Romans verfu&#x0364;hrt,<lb/>
vo&#x0364;llig zer&#x017F;chellen muß. In Wilhelm Mei&#x017F;ters Lehr¬<lb/>
jahren eine Verlaufsa&#x0364;hnlichkeit mit dem Alten Te&#x017F;ta¬<lb/>
mente zu finden, wo denn fu&#x0364;r die Wanderjahre, was<lb/>
zwar nicht ausdru&#x0364;cklich ge&#x017F;agt i&#x017F;t, das Neue Te&#x017F;tament<lb/>
zur Vergleichung &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t bietet, i&#x017F;t wenig&#x017F;tens<lb/>
neu und &#x017F;elt&#x017F;am genug; der Verfa&#x017F;&#x017F;er wird uns erlau¬<lb/>
ben, er&#x017F;t mehrmals Athem zu holen, ehe wir u&#x0364;ber<lb/>
einen &#x017F;olchen Gegen&#x017F;tand mitreden. Das verfehlte&#x017F;te<lb/>
Wort &#x017F;cheint uns das u&#x0364;ber Eugenien, mit welcher eine<lb/>
Art Apologie der mittlern Sta&#x0364;nde gemeint &#x017F;ein &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>Ueber den Fau&#x017F;t, den eigentlichen Gegen&#x017F;tand der<lb/>
Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten<lb/>
die Kernbemerkung, der Dichter lege in die&#x017F;em Werke<lb/>
nicht das Ge&#x017F;ta&#x0364;ndniß ab: <hi rendition="#g">&#x017F;o &#x017F;ei der Men&#x017F;ch</hi>, <hi rendition="#g">weil<lb/>
er &#x017F;o &#x017F;ein mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e</hi>; &#x017F;ondern habe nur &#x017F;agen wollen:<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;o &#x017F;ei der Men&#x017F;ch</hi>, <hi rendition="#g">weil er die Freiheit &#x017F;ich<lb/>
nimmt</hi>, <hi rendition="#g">es zu &#x017F;ein</hi>, <hi rendition="#g">ohne zu mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en</hi>. Doch wird<lb/>
jetzt, da das vollendete Gedicht un&#x017F;ern Augen und<lb/>
un&#x017F;erm Nachdenken ero&#x0364;ffnet liegt, die Kritik die&#x017F;es kolo&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;alen Werkes einen ganz neuen Auf&#x017F;chwung zu nehmen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[390/0404] beſtritten gelten laſſen, und muͤßten, wenn darin wirklich Napoleons von Goethe zugeſtandene Bemerkung beſtehen ſollte, auch dieſen beiden Autoritaͤten fuͤrerſt noch zwei¬ felnd gegenuͤber bleiben. Auch uͤber die Wahlverwandt¬ ſchaften ſagt der Verfaſſer Wuͤrdiges und Klares, woran viel albernes Geſchrei, das man noch heutiges Tages uͤber das angeblich Unſittliche dieſes Romans verfuͤhrt, voͤllig zerſchellen muß. In Wilhelm Meiſters Lehr¬ jahren eine Verlaufsaͤhnlichkeit mit dem Alten Teſta¬ mente zu finden, wo denn fuͤr die Wanderjahre, was zwar nicht ausdruͤcklich geſagt iſt, das Neue Teſtament zur Vergleichung ſich von ſelbſt bietet, iſt wenigſtens neu und ſeltſam genug; der Verfaſſer wird uns erlau¬ ben, erſt mehrmals Athem zu holen, ehe wir uͤber einen ſolchen Gegenſtand mitreden. Das verfehlteſte Wort ſcheint uns das uͤber Eugenien, mit welcher eine Art Apologie der mittlern Staͤnde gemeint ſein ſoll. Ueber den Fauſt, den eigentlichen Gegenſtand der Schrift, finden wir unter vielem andern Gutgedachten die Kernbemerkung, der Dichter lege in dieſem Werke nicht das Geſtaͤndniß ab: ſo ſei der Menſch, weil er ſo ſein muͤſſe; ſondern habe nur ſagen wollen: ſo ſei der Menſch, weil er die Freiheit ſich nimmt, es zu ſein, ohne zu muͤſſen. Doch wird jetzt, da das vollendete Gedicht unſern Augen und unſerm Nachdenken eroͤffnet liegt, die Kritik dieſes koloſ¬ ſalen Werkes einen ganz neuen Aufſchwung zu nehmen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/404
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 390. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/404>, abgerufen am 27.04.2024.