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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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voraussetze, scheinen sich zu widersprechen. Allein man darf nur erwägen,
daß der Mensch erst werden muß, was er ist, daß er nur durch Bildung bei
seiner wahren Natur anlangt, daß Bildung durch die tiefste Vermittlung zur
wahren Einfachheit zurückführt, so löst sich der Widerspruch. Der sinnliche
Mensch, das rohe Individuum und das rohe Volk, ist nicht der Gattung
adäquat, stellt nicht die reine Menschheit in sich dar; das Bedürfniß, das
Ganze an sich darzustellen und sich zum Genuß zu geben, äußert sich dennoch
als dunkler Trieb im Schmucke. Der Mensch, der seine Rohheit über-
windet und, was man gewöhnlich Natur nennt, durch gegensätzliches Denken
und Handeln in Geist umbildet, ist aber auch nicht der ganze Mensch.
Humanität ist erst die späte Frucht der Bildung, die zur Natur zurückkehren
darf, weil sie sie nicht mehr zu fürchten hat, und hier erst blüht der Sinn
des Schönen auf. Ist ihm nun der Boden geebnet, so braucht es, obwohl
er, verglichen mit den gegensätzlichen Thätigkeiten ganz unmittelbar ist, eine
Vermittlung innerhalb seiner selbst, eine Bildung des Formsinns. In
diesem liegt nun allerdings auch ein Denken. Ohne tiefes Sinnen, ohne
Reflexion über die Verhältnisse der Composition ist kein Kunstwerk zu ge-
nießen, und dazu muß erst die Uebung des Auges und Ohrs für Form,
Farbe, Ton, Rythmus u. s. w. treten. Das sentimentale Entzücken über
schöne Natur und Kunst ist nur die Lust des spielenden Thiers im Grase.
Allein jenes Denken ist ein eingehülltes. Es geht nicht fort zur Zerlegung
der Gedankenmomente in der Idee, um sie mit den Theilen der Com-
position zu vergleichen: es behält diese als sinnliche Verhältnisse vor sich,
es ist nicht ein Denken, sondern ein Sinnen. Ebenso der besondere Sinn
für Farbe, Form u. s. w. Um durch die Linien, die Modellirung, die
Farbentöne eines Baumes, wie er sich von anderen Gegenständen abhebt,
wie die Massen seiner belaubten Aeste auseinandertreten, wie die Schatten
sich mit den Farbentönen mischen u. s. w., das innerste Gefühl mit Wonne
zu durchdringen, dazu gehört ein inneres Zeichnen und Malen, das theilt
und wieder verbindet; der Gegenstand wird aufgehoben und wieder
zusammengesetzt, wird bildend innerlich nachgeschaffen, die Linien fließen,
sie sind nicht todt, die Farben athmen, Schatten und Lichter durchschneiden
sich hier und verschweben dort: dies Alles ist ein Reflectiren, aber kein
abstractes, ein Reflectiren, ein Denken in Formen.

§. 81.

Dieser zweite Act nun, welcher den ersten, unmittelbaren als vollzogen
voraussetzt, löst das Schöne auf (§. 69). Wenn er aber darum allerdings un-

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vorausſetze, ſcheinen ſich zu widerſprechen. Allein man darf nur erwägen,
daß der Menſch erſt werden muß, was er iſt, daß er nur durch Bildung bei
ſeiner wahren Natur anlangt, daß Bildung durch die tiefſte Vermittlung zur
wahren Einfachheit zurückführt, ſo löst ſich der Widerſpruch. Der ſinnliche
Menſch, das rohe Individuum und das rohe Volk, iſt nicht der Gattung
adäquat, ſtellt nicht die reine Menſchheit in ſich dar; das Bedürfniß, das
Ganze an ſich darzuſtellen und ſich zum Genuß zu geben, äußert ſich dennoch
als dunkler Trieb im Schmucke. Der Menſch, der ſeine Rohheit über-
windet und, was man gewöhnlich Natur nennt, durch gegenſätzliches Denken
und Handeln in Geiſt umbildet, iſt aber auch nicht der ganze Menſch.
Humanität iſt erſt die ſpäte Frucht der Bildung, die zur Natur zurückkehren
darf, weil ſie ſie nicht mehr zu fürchten hat, und hier erſt blüht der Sinn
des Schönen auf. Iſt ihm nun der Boden geebnet, ſo braucht es, obwohl
er, verglichen mit den gegenſätzlichen Thätigkeiten ganz unmittelbar iſt, eine
Vermittlung innerhalb ſeiner ſelbſt, eine Bildung des Formſinns. In
dieſem liegt nun allerdings auch ein Denken. Ohne tiefes Sinnen, ohne
Reflexion über die Verhältniſſe der Compoſition iſt kein Kunſtwerk zu ge-
nießen, und dazu muß erſt die Uebung des Auges und Ohrs für Form,
Farbe, Ton, Rythmus u. ſ. w. treten. Das ſentimentale Entzücken über
ſchöne Natur und Kunſt iſt nur die Luſt des ſpielenden Thiers im Graſe.
Allein jenes Denken iſt ein eingehülltes. Es geht nicht fort zur Zerlegung
der Gedankenmomente in der Idee, um ſie mit den Theilen der Com-
poſition zu vergleichen: es behält dieſe als ſinnliche Verhältniſſe vor ſich,
es iſt nicht ein Denken, ſondern ein Sinnen. Ebenſo der beſondere Sinn
für Farbe, Form u. ſ. w. Um durch die Linien, die Modellirung, die
Farbentöne eines Baumes, wie er ſich von anderen Gegenſtänden abhebt,
wie die Maſſen ſeiner belaubten Aeſte auseinandertreten, wie die Schatten
ſich mit den Farbentönen miſchen u. ſ. w., das innerſte Gefühl mit Wonne
zu durchdringen, dazu gehört ein inneres Zeichnen und Malen, das theilt
und wieder verbindet; der Gegenſtand wird aufgehoben und wieder
zuſammengeſetzt, wird bildend innerlich nachgeſchaffen, die Linien fließen,
ſie ſind nicht todt, die Farben athmen, Schatten und Lichter durchſchneiden
ſich hier und verſchweben dort: dies Alles iſt ein Reflectiren, aber kein
abſtractes, ein Reflectiren, ein Denken in Formen.

§. 81.

Dieſer zweite Act nun, welcher den erſten, unmittelbaren als vollzogen
vorausſetzt, löst das Schöne auf (§. 69). Wenn er aber darum allerdings un-

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[211/0225] vorausſetze, ſcheinen ſich zu widerſprechen. Allein man darf nur erwägen, daß der Menſch erſt werden muß, was er iſt, daß er nur durch Bildung bei ſeiner wahren Natur anlangt, daß Bildung durch die tiefſte Vermittlung zur wahren Einfachheit zurückführt, ſo löst ſich der Widerſpruch. Der ſinnliche Menſch, das rohe Individuum und das rohe Volk, iſt nicht der Gattung adäquat, ſtellt nicht die reine Menſchheit in ſich dar; das Bedürfniß, das Ganze an ſich darzuſtellen und ſich zum Genuß zu geben, äußert ſich dennoch als dunkler Trieb im Schmucke. Der Menſch, der ſeine Rohheit über- windet und, was man gewöhnlich Natur nennt, durch gegenſätzliches Denken und Handeln in Geiſt umbildet, iſt aber auch nicht der ganze Menſch. Humanität iſt erſt die ſpäte Frucht der Bildung, die zur Natur zurückkehren darf, weil ſie ſie nicht mehr zu fürchten hat, und hier erſt blüht der Sinn des Schönen auf. Iſt ihm nun der Boden geebnet, ſo braucht es, obwohl er, verglichen mit den gegenſätzlichen Thätigkeiten ganz unmittelbar iſt, eine Vermittlung innerhalb ſeiner ſelbſt, eine Bildung des Formſinns. In dieſem liegt nun allerdings auch ein Denken. Ohne tiefes Sinnen, ohne Reflexion über die Verhältniſſe der Compoſition iſt kein Kunſtwerk zu ge- nießen, und dazu muß erſt die Uebung des Auges und Ohrs für Form, Farbe, Ton, Rythmus u. ſ. w. treten. Das ſentimentale Entzücken über ſchöne Natur und Kunſt iſt nur die Luſt des ſpielenden Thiers im Graſe. Allein jenes Denken iſt ein eingehülltes. Es geht nicht fort zur Zerlegung der Gedankenmomente in der Idee, um ſie mit den Theilen der Com- poſition zu vergleichen: es behält dieſe als ſinnliche Verhältniſſe vor ſich, es iſt nicht ein Denken, ſondern ein Sinnen. Ebenſo der beſondere Sinn für Farbe, Form u. ſ. w. Um durch die Linien, die Modellirung, die Farbentöne eines Baumes, wie er ſich von anderen Gegenſtänden abhebt, wie die Maſſen ſeiner belaubten Aeſte auseinandertreten, wie die Schatten ſich mit den Farbentönen miſchen u. ſ. w., das innerſte Gefühl mit Wonne zu durchdringen, dazu gehört ein inneres Zeichnen und Malen, das theilt und wieder verbindet; der Gegenſtand wird aufgehoben und wieder zuſammengeſetzt, wird bildend innerlich nachgeſchaffen, die Linien fließen, ſie ſind nicht todt, die Farben athmen, Schatten und Lichter durchſchneiden ſich hier und verſchweben dort: dies Alles iſt ein Reflectiren, aber kein abſtractes, ein Reflectiren, ein Denken in Formen. §. 81. Dieſer zweite Act nun, welcher den erſten, unmittelbaren als vollzogen vorausſetzt, löst das Schöne auf (§. 69). Wenn er aber darum allerdings un- 14*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/225>, abgerufen am 19.03.2024.