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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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allein daraus folgt nur eine Nothwendigkeit, zu einer andern Sphäre
der Eintheilung fortzuschreiten, nicht die Aufhebung der ersten.

a.
Das Erhabene des Raums.
§. 91.

1

Die nächste und einfachste Form wie des Seyns überhaupt, so auch des
quantitativ Erhabenen ist die Form des Außer- und Uebeneinanderseyns durch
die gegenseitige Ausschließung der Körper: der Raum. Das Erhabene des
2Raums ist (§. 85) entweder positiv oder negativ. Das positive entsteht zunächst,
wenn ein Gegenstand zu seinen Umgebungen in einem solchen Verhältniß der
Größe steht, daß er sich in's Unendliche auszudehnen scheint. Damit dieser
Schein sich erzeuge, wird erfordert, nicht nur daß umgebende Gegenstände einen
Maßstab an die Hand geben, sondern auch, daß eine gewisse gleichmäßig fort-
laufende Wiederholung nicht allzuscharfer Abstiche auf der Oberfläche den Zuschauer
in die Illusion versetze, als habe ihre Fortsetzung gar kein Ende. Bald ruhig
3erhebend, bald drohend wirkt die Höhe, unruhig und erschütternd die Tiefe,
erweiternd und Sehnsucht erregend die Breite.

1. Kant unterscheidet ein mathematisch- und ein dynamisch Erhabenes
der Natur, Schiller wendet dieselbe Eintheilung subjectiv: was unsere
Fassungskraft übersteigt und was unserer Lebenskraft droht (Ueber das Er-
habene); Jean Paul (Vorschule der Aesthetik B. 1, §. 27) sucht
statt dessen die Eintheilung des Erhabenen der Natur in ein optisch und
ein akustisch Erhabenes einzuführen. Davon nachher. Es ist nachzuholen,
daß der Letztere zuerst den Gedanken hatte, die sittliche oder handelnde
Erhabenheit als besondere Form aufzustellen. Zwischen diese Form und
das Erhabene der Natur stellt er aber ganz ungehörig das Erhabene der
Unermeßlichkeit und Gottheit: dies ist vielmehr das Letzte und Ganze,
denn alles Erhabene ist unermeßlich und in diesem Sinne göttlich. Wir
unterscheiden im Quantitativen zunächst die Ausdehnung des Raums und
der Zeit; die zweite dieser Formen führt zum Erhabenen der Kraft,
welches in der Quantität die Qualität zu gleicher Bedeutung erhoben in
sich trägt, und so mag die dreifache Eintheilung, da die Erhabenheit
der Zeit schon aus der blosen Quantität heraus und die Erhabenheit der

allein daraus folgt nur eine Nothwendigkeit, zu einer andern Sphäre
der Eintheilung fortzuſchreiten, nicht die Aufhebung der erſten.

α.
Das Erhabene des Raums.
§. 91.

1

Die nächſte und einfachſte Form wie des Seyns überhaupt, ſo auch des
quantitativ Erhabenen iſt die Form des Außer- und Uebeneinanderſeyns durch
die gegenſeitige Ausſchließung der Körper: der Raum. Das Erhabene des
2Raums iſt (§. 85) entweder poſitiv oder negativ. Das poſitive entſteht zunächſt,
wenn ein Gegenſtand zu ſeinen Umgebungen in einem ſolchen Verhältniß der
Größe ſteht, daß er ſich in’s Unendliche auszudehnen ſcheint. Damit dieſer
Schein ſich erzeuge, wird erfordert, nicht nur daß umgebende Gegenſtände einen
Maßſtab an die Hand geben, ſondern auch, daß eine gewiſſe gleichmäßig fort-
laufende Wiederholung nicht allzuſcharfer Abſtiche auf der Oberfläche den Zuſchauer
in die Illuſion verſetze, als habe ihre Fortſetzung gar kein Ende. Bald ruhig
3erhebend, bald drohend wirkt die Höhe, unruhig und erſchütternd die Tiefe,
erweiternd und Sehnſucht erregend die Breite.

1. Kant unterſcheidet ein mathematiſch- und ein dynamiſch Erhabenes
der Natur, Schiller wendet dieſelbe Eintheilung ſubjectiv: was unſere
Faſſungskraft überſteigt und was unſerer Lebenskraft droht (Ueber das Er-
habene); Jean Paul (Vorſchule der Aeſthetik B. 1, §. 27) ſucht
ſtatt deſſen die Eintheilung des Erhabenen der Natur in ein optiſch und
ein akuſtiſch Erhabenes einzuführen. Davon nachher. Es iſt nachzuholen,
daß der Letztere zuerſt den Gedanken hatte, die ſittliche oder handelnde
Erhabenheit als beſondere Form aufzuſtellen. Zwiſchen dieſe Form und
das Erhabene der Natur ſtellt er aber ganz ungehörig das Erhabene der
Unermeßlichkeit und Gottheit: dies iſt vielmehr das Letzte und Ganze,
denn alles Erhabene iſt unermeßlich und in dieſem Sinne göttlich. Wir
unterſcheiden im Quantitativen zunächſt die Ausdehnung des Raums und
der Zeit; die zweite dieſer Formen führt zum Erhabenen der Kraft,
welches in der Quantität die Qualität zu gleicher Bedeutung erhoben in
ſich trägt, und ſo mag die dreifache Eintheilung, da die Erhabenheit
der Zeit ſchon aus der bloſen Quantität heraus und die Erhabenheit der

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[234/0248] allein daraus folgt nur eine Nothwendigkeit, zu einer andern Sphäre der Eintheilung fortzuſchreiten, nicht die Aufhebung der erſten. α. Das Erhabene des Raums. §. 91. Die nächſte und einfachſte Form wie des Seyns überhaupt, ſo auch des quantitativ Erhabenen iſt die Form des Außer- und Uebeneinanderſeyns durch die gegenſeitige Ausſchließung der Körper: der Raum. Das Erhabene des Raums iſt (§. 85) entweder poſitiv oder negativ. Das poſitive entſteht zunächſt, wenn ein Gegenſtand zu ſeinen Umgebungen in einem ſolchen Verhältniß der Größe ſteht, daß er ſich in’s Unendliche auszudehnen ſcheint. Damit dieſer Schein ſich erzeuge, wird erfordert, nicht nur daß umgebende Gegenſtände einen Maßſtab an die Hand geben, ſondern auch, daß eine gewiſſe gleichmäßig fort- laufende Wiederholung nicht allzuſcharfer Abſtiche auf der Oberfläche den Zuſchauer in die Illuſion verſetze, als habe ihre Fortſetzung gar kein Ende. Bald ruhig erhebend, bald drohend wirkt die Höhe, unruhig und erſchütternd die Tiefe, erweiternd und Sehnſucht erregend die Breite. 1. Kant unterſcheidet ein mathematiſch- und ein dynamiſch Erhabenes der Natur, Schiller wendet dieſelbe Eintheilung ſubjectiv: was unſere Faſſungskraft überſteigt und was unſerer Lebenskraft droht (Ueber das Er- habene); Jean Paul (Vorſchule der Aeſthetik B. 1, §. 27) ſucht ſtatt deſſen die Eintheilung des Erhabenen der Natur in ein optiſch und ein akuſtiſch Erhabenes einzuführen. Davon nachher. Es iſt nachzuholen, daß der Letztere zuerſt den Gedanken hatte, die ſittliche oder handelnde Erhabenheit als beſondere Form aufzuſtellen. Zwiſchen dieſe Form und das Erhabene der Natur ſtellt er aber ganz ungehörig das Erhabene der Unermeßlichkeit und Gottheit: dies iſt vielmehr das Letzte und Ganze, denn alles Erhabene iſt unermeßlich und in dieſem Sinne göttlich. Wir unterſcheiden im Quantitativen zunächſt die Ausdehnung des Raums und der Zeit; die zweite dieſer Formen führt zum Erhabenen der Kraft, welches in der Quantität die Qualität zu gleicher Bedeutung erhoben in ſich trägt, und ſo mag die dreifache Eintheilung, da die Erhabenheit der Zeit ſchon aus der bloſen Quantität heraus und die Erhabenheit der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/248>, abgerufen am 19.03.2024.