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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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In das menschlich Böse setzen sich die guten Kräfte nicht nur in der
Form der Umkehrung fort, sondern als Lichtblicke gelegentlicher Güte
vorübergehender Reue, und daraus entsteht ein neues Motiv, das
keine Komik aufkommen läßt: die vom Grauen selbst nicht aufgehobene
Theilnahme. Komisch ist der menschliche Bösewicht allerdings in dem
activen Sinne, daß er durch seinen Verstand die Umgebungen ironisirt;
dies gehört aber nicht hieher. Er ist komisch auch in dem passiven
Sinne, daß er in der Entschiedenheit seines bösen Wollens, als wäre
es gut, naiv erscheint (wie namentlich Richard III). Allein auch dies
gehört nicht hieher, denn darin hat er gegen die halbe Bosheit der
umgebenden schwachen Subjecte Recht, indem er "eine Natur" ist.

§. 109.

Die negative Form der Erhabenheit des bösen Willens tritt ein, wenn
über den scheinbar vollendeten Bösewicht die noch zerstörendere Kraft der Bos-
heit durch einen andern kommt. Der eine wie der andere kann das Böse in
der Form des drohenden Rückhalts oder des vollen Ausbruchs darstellen und
die wirksamste Erscheinung ist die, wenn die größtmögliche Zerstörung in der
darauf folgenden Stille und Ruhe eine unendliche Möglichkeit neuer Verbrechen
verbirgt; denn hier vereinigt sich mit der Wirkung der geahnten Unendlichkeit
die volle Kraft der Negativität. Allein sobald sich der Zuschauer in diesen
Abgrund vertieft, so erblickt er darin die innere Selbstzerstörung, welche aber
auch im Aufbau ihres Werks an eine Grenze gelangt, wo die äußere Zerstö-
rung eintritt. Das Böse hebt sich auf und führt zu der Nothwendigkeit, daß
der Wille des Subjects sich mit dem allgemeinen und vernünftigen versöhne.

Es wurde in §. 107 gesagt, das Böse sey einsam. Dies hindert
nicht die Vereinigung vieler Bösen in einem ästhetischen Ganzen, denn
daß jeder derselben einsam bleibt, daraus geht gerade die Dialektik her-
vor, worin sie sich aufreiben und das Gegentheil von dem, was sie
wollten, das Gute herstellen. Im Lear und in der Dramenreihe von
Heinrich VI -- Richard III herrscht diese Dialektik, wo über den
großen Bösewicht vernichtend der größere kommt und der größte an der
inneren Nichtigkeit des Bösen scheitert. Der übrige Inhalt des §. bedarf
keiner Erläuterung und die nähere Motivirung des Prozesses, wodurch
sich der böse Wille in den guten aufhebt, gehört in die Ethik.


In das menſchlich Böſe ſetzen ſich die guten Kräfte nicht nur in der
Form der Umkehrung fort, ſondern als Lichtblicke gelegentlicher Güte
vorübergehender Reue, und daraus entſteht ein neues Motiv, das
keine Komik aufkommen läßt: die vom Grauen ſelbſt nicht aufgehobene
Theilnahme. Komiſch iſt der menſchliche Böſewicht allerdings in dem
activen Sinne, daß er durch ſeinen Verſtand die Umgebungen ironiſirt;
dies gehört aber nicht hieher. Er iſt komiſch auch in dem paſſiven
Sinne, daß er in der Entſchiedenheit ſeines böſen Wollens, als wäre
es gut, naiv erſcheint (wie namentlich Richard III). Allein auch dies
gehört nicht hieher, denn darin hat er gegen die halbe Bosheit der
umgebenden ſchwachen Subjecte Recht, indem er „eine Natur“ iſt.

§. 109.

Die negative Form der Erhabenheit des böſen Willens tritt ein, wenn
über den ſcheinbar vollendeten Böſewicht die noch zerſtörendere Kraft der Bos-
heit durch einen andern kommt. Der eine wie der andere kann das Böſe in
der Form des drohenden Rückhalts oder des vollen Ausbruchs darſtellen und
die wirkſamſte Erſcheinung iſt die, wenn die größtmögliche Zerſtörung in der
darauf folgenden Stille und Ruhe eine unendliche Möglichkeit neuer Verbrechen
verbirgt; denn hier vereinigt ſich mit der Wirkung der geahnten Unendlichkeit
die volle Kraft der Negativität. Allein ſobald ſich der Zuſchauer in dieſen
Abgrund vertieft, ſo erblickt er darin die innere Selbſtzerſtörung, welche aber
auch im Aufbau ihres Werks an eine Grenze gelangt, wo die äußere Zerſtö-
rung eintritt. Das Böſe hebt ſich auf und führt zu der Nothwendigkeit, daß
der Wille des Subjects ſich mit dem allgemeinen und vernünftigen verſöhne.

Es wurde in §. 107 geſagt, das Böſe ſey einſam. Dies hindert
nicht die Vereinigung vieler Böſen in einem äſthetiſchen Ganzen, denn
daß jeder derſelben einſam bleibt, daraus geht gerade die Dialektik her-
vor, worin ſie ſich aufreiben und das Gegentheil von dem, was ſie
wollten, das Gute herſtellen. Im Lear und in der Dramenreihe von
Heinrich VIRichard III herrſcht dieſe Dialektik, wo über den
großen Böſewicht vernichtend der größere kommt und der größte an der
inneren Nichtigkeit des Böſen ſcheitert. Der übrige Inhalt des §. bedarf
keiner Erläuterung und die nähere Motivirung des Prozeſſes, wodurch
ſich der böſe Wille in den guten aufhebt, gehört in die Ethik.


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[264/0278] In das menſchlich Böſe ſetzen ſich die guten Kräfte nicht nur in der Form der Umkehrung fort, ſondern als Lichtblicke gelegentlicher Güte vorübergehender Reue, und daraus entſteht ein neues Motiv, das keine Komik aufkommen läßt: die vom Grauen ſelbſt nicht aufgehobene Theilnahme. Komiſch iſt der menſchliche Böſewicht allerdings in dem activen Sinne, daß er durch ſeinen Verſtand die Umgebungen ironiſirt; dies gehört aber nicht hieher. Er iſt komiſch auch in dem paſſiven Sinne, daß er in der Entſchiedenheit ſeines böſen Wollens, als wäre es gut, naiv erſcheint (wie namentlich Richard III). Allein auch dies gehört nicht hieher, denn darin hat er gegen die halbe Bosheit der umgebenden ſchwachen Subjecte Recht, indem er „eine Natur“ iſt. §. 109. Die negative Form der Erhabenheit des böſen Willens tritt ein, wenn über den ſcheinbar vollendeten Böſewicht die noch zerſtörendere Kraft der Bos- heit durch einen andern kommt. Der eine wie der andere kann das Böſe in der Form des drohenden Rückhalts oder des vollen Ausbruchs darſtellen und die wirkſamſte Erſcheinung iſt die, wenn die größtmögliche Zerſtörung in der darauf folgenden Stille und Ruhe eine unendliche Möglichkeit neuer Verbrechen verbirgt; denn hier vereinigt ſich mit der Wirkung der geahnten Unendlichkeit die volle Kraft der Negativität. Allein ſobald ſich der Zuſchauer in dieſen Abgrund vertieft, ſo erblickt er darin die innere Selbſtzerſtörung, welche aber auch im Aufbau ihres Werks an eine Grenze gelangt, wo die äußere Zerſtö- rung eintritt. Das Böſe hebt ſich auf und führt zu der Nothwendigkeit, daß der Wille des Subjects ſich mit dem allgemeinen und vernünftigen verſöhne. Es wurde in §. 107 geſagt, das Böſe ſey einſam. Dies hindert nicht die Vereinigung vieler Böſen in einem äſthetiſchen Ganzen, denn daß jeder derſelben einſam bleibt, daraus geht gerade die Dialektik her- vor, worin ſie ſich aufreiben und das Gegentheil von dem, was ſie wollten, das Gute herſtellen. Im Lear und in der Dramenreihe von Heinrich VI — Richard III herrſcht dieſe Dialektik, wo über den großen Böſewicht vernichtend der größere kommt und der größte an der inneren Nichtigkeit des Böſen ſcheitert. Der übrige Inhalt des §. bedarf keiner Erläuterung und die nähere Motivirung des Prozeſſes, wodurch ſich der böſe Wille in den guten aufhebt, gehört in die Ethik.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/278>, abgerufen am 19.03.2024.