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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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etwas Nichtiges wird und untergeht." (Vorles. S. 241. 242). Sie
soll nun freilich mit der andern Seite des künstlerischen Geistes, die das
Positive in der reinen Thätigkeit der Idee wahrnimmt, mit der Be-
geisterung identisch seyn; allein die thätige Gegenwart der Idee soll
vielmehr eben nicht blos die Aufhebung des Wirklichen, sondern die
Aufhebung ihrer selbst in der Wirklichkeit, d. h. der Erscheinung seyn,
die zwar von ihr erfüllt ist, aber sie zugleich in die Gegensätze des
Wirklichen hineinzieht; also bleibt Alles in der Negativität aufgefaßt.
Dies wird nun auf das Tragische übergetragen und jener Untergang der
Idee sammt der Erscheinung auch objectiv (dies ist gleichgültig, denn
Solger hat sogleich die Kunst im Auge) Ironie genannt. Der große
Mangel nun ist der, daß Solger nirgends darthut, wie die Idee
ihren Untergang auch in dieser Gegenwart des Daseyns überlebt, wie
zwar diese ihre getrübte Form, das heißt freilich nicht blos dieses sie
wollende Subject, sondern mit ihm der Zweck selbst als einseitiger und ge-
trübter, untergeht, wie sie aber dennoch mitten in diesem widerspruchs-
vollen Leben, sich ewig von Trübung reinigend, als Zweck in Subjecten
fortwirkt. Solger sagt z. B. (Vorles. S. 95): "indem das Schöne
untergeht, ist es ebendadurch und in diesem Momente reine göttliche
Idee, die sich offenbart, so wie das Zeitliche geopfert wird." Soll
der Moment blos der Moment seyn, worin die Idee erkannt wird
als hinausgehend über die Vereinzelung und sich durch immer neues
Eingehen in dieselbe reinigend, so ist dagegen nichts einzuwenden; allein
Solger will sagen, daß die Idee in diesem Momente als ein Ganzes,
eben in seiner Reinheit Transcendentes sogleich völlig sich offenbare.
Dies ist ein Rest von platonischem Idealismus. Ist die Idee ein
fertiges, jenseitiges Ganzes, so ist ihre Offenbarung im Diesseits
wesentlich negativ: man sieht auf sie hindurch, wo die Gegenwart
durchlöchert wird durch Vernichtung. Solger hält die Negativität,
die nur ein Moment ist, für die ganze Bewegung. (vergl. Hegel
Aesth. Th. 1, S. 90). Tilgt man diesen Mangel und legt man das
Tragische gründlicher auseinander, so sind nur die beiden Momente in
§. 123 und 124 ironisch zu nennen, der Schluß aber nicht mehr. Hier
tritt die Position aus der Negation hervor.

§. 127.

Diese ganze Bewegung heißt das Schicksal oder das Tragische. Alle
bisherigen Formen des Erhabenen gehen, indem jede derselben über sich hin-

etwas Nichtiges wird und untergeht.“ (Vorleſ. S. 241. 242). Sie
ſoll nun freilich mit der andern Seite des künſtleriſchen Geiſtes, die das
Poſitive in der reinen Thätigkeit der Idee wahrnimmt, mit der Be-
geiſterung identiſch ſeyn; allein die thätige Gegenwart der Idee ſoll
vielmehr eben nicht blos die Aufhebung des Wirklichen, ſondern die
Aufhebung ihrer ſelbſt in der Wirklichkeit, d. h. der Erſcheinung ſeyn,
die zwar von ihr erfüllt iſt, aber ſie zugleich in die Gegenſätze des
Wirklichen hineinzieht; alſo bleibt Alles in der Negativität aufgefaßt.
Dies wird nun auf das Tragiſche übergetragen und jener Untergang der
Idee ſammt der Erſcheinung auch objectiv (dies iſt gleichgültig, denn
Solger hat ſogleich die Kunſt im Auge) Ironie genannt. Der große
Mangel nun iſt der, daß Solger nirgends darthut, wie die Idee
ihren Untergang auch in dieſer Gegenwart des Daſeyns überlebt, wie
zwar dieſe ihre getrübte Form, das heißt freilich nicht blos dieſes ſie
wollende Subject, ſondern mit ihm der Zweck ſelbſt als einſeitiger und ge-
trübter, untergeht, wie ſie aber dennoch mitten in dieſem widerſpruchs-
vollen Leben, ſich ewig von Trübung reinigend, als Zweck in Subjecten
fortwirkt. Solger ſagt z. B. (Vorleſ. S. 95): „indem das Schöne
untergeht, iſt es ebendadurch und in dieſem Momente reine göttliche
Idee, die ſich offenbart, ſo wie das Zeitliche geopfert wird.“ Soll
der Moment blos der Moment ſeyn, worin die Idee erkannt wird
als hinausgehend über die Vereinzelung und ſich durch immer neues
Eingehen in dieſelbe reinigend, ſo iſt dagegen nichts einzuwenden; allein
Solger will ſagen, daß die Idee in dieſem Momente als ein Ganzes,
eben in ſeiner Reinheit Transcendentes ſogleich völlig ſich offenbare.
Dies iſt ein Reſt von platoniſchem Idealismus. Iſt die Idee ein
fertiges, jenſeitiges Ganzes, ſo iſt ihre Offenbarung im Diesſeits
weſentlich negativ: man ſieht auf ſie hindurch, wo die Gegenwart
durchlöchert wird durch Vernichtung. Solger hält die Negativität,
die nur ein Moment iſt, für die ganze Bewegung. (vergl. Hegel
Aeſth. Th. 1, S. 90). Tilgt man dieſen Mangel und legt man das
Tragiſche gründlicher auseinander, ſo ſind nur die beiden Momente in
§. 123 und 124 ironiſch zu nennen, der Schluß aber nicht mehr. Hier
tritt die Poſition aus der Negation hervor.

§. 127.

Dieſe ganze Bewegung heißt das Schickſal oder das Tragiſche. Alle
bisherigen Formen des Erhabenen gehen, indem jede derſelben über ſich hin-

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[294/0308] etwas Nichtiges wird und untergeht.“ (Vorleſ. S. 241. 242). Sie ſoll nun freilich mit der andern Seite des künſtleriſchen Geiſtes, die das Poſitive in der reinen Thätigkeit der Idee wahrnimmt, mit der Be- geiſterung identiſch ſeyn; allein die thätige Gegenwart der Idee ſoll vielmehr eben nicht blos die Aufhebung des Wirklichen, ſondern die Aufhebung ihrer ſelbſt in der Wirklichkeit, d. h. der Erſcheinung ſeyn, die zwar von ihr erfüllt iſt, aber ſie zugleich in die Gegenſätze des Wirklichen hineinzieht; alſo bleibt Alles in der Negativität aufgefaßt. Dies wird nun auf das Tragiſche übergetragen und jener Untergang der Idee ſammt der Erſcheinung auch objectiv (dies iſt gleichgültig, denn Solger hat ſogleich die Kunſt im Auge) Ironie genannt. Der große Mangel nun iſt der, daß Solger nirgends darthut, wie die Idee ihren Untergang auch in dieſer Gegenwart des Daſeyns überlebt, wie zwar dieſe ihre getrübte Form, das heißt freilich nicht blos dieſes ſie wollende Subject, ſondern mit ihm der Zweck ſelbſt als einſeitiger und ge- trübter, untergeht, wie ſie aber dennoch mitten in dieſem widerſpruchs- vollen Leben, ſich ewig von Trübung reinigend, als Zweck in Subjecten fortwirkt. Solger ſagt z. B. (Vorleſ. S. 95): „indem das Schöne untergeht, iſt es ebendadurch und in dieſem Momente reine göttliche Idee, die ſich offenbart, ſo wie das Zeitliche geopfert wird.“ Soll der Moment blos der Moment ſeyn, worin die Idee erkannt wird als hinausgehend über die Vereinzelung und ſich durch immer neues Eingehen in dieſelbe reinigend, ſo iſt dagegen nichts einzuwenden; allein Solger will ſagen, daß die Idee in dieſem Momente als ein Ganzes, eben in ſeiner Reinheit Transcendentes ſogleich völlig ſich offenbare. Dies iſt ein Reſt von platoniſchem Idealismus. Iſt die Idee ein fertiges, jenſeitiges Ganzes, ſo iſt ihre Offenbarung im Diesſeits weſentlich negativ: man ſieht auf ſie hindurch, wo die Gegenwart durchlöchert wird durch Vernichtung. Solger hält die Negativität, die nur ein Moment iſt, für die ganze Bewegung. (vergl. Hegel Aeſth. Th. 1, S. 90). Tilgt man dieſen Mangel und legt man das Tragiſche gründlicher auseinander, ſo ſind nur die beiden Momente in §. 123 und 124 ironiſch zu nennen, der Schluß aber nicht mehr. Hier tritt die Poſition aus der Negation hervor. §. 127. Dieſe ganze Bewegung heißt das Schickſal oder das Tragiſche. Alle bisherigen Formen des Erhabenen gehen, indem jede derſelben über ſich hin-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/308>, abgerufen am 19.03.2024.