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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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zwar nur für diesen Fall, jedoch im Interesse des Ganzen gegeben ist, welches
jede Familie überdauert, Tasso, der in der Gluth seiner Dichternatur
Verstand und Convenienz bei Seite wirft, Wallenstein, der das Miß-
trauen Oestreichs, welches den Genius nicht ertragen kann, mit Verrath
erwiedert, Göz, der den neuen Landfrieden nicht fassen kann, steht im
Vorrecht unserer Liebe. Aber es ist ein Irrthum, wenn man den Helden
des Strebens, der Revolution im Untergang wie einen ganz Unschuldigen
betrauert; das Bestehende hat auch sein Recht. Das Wahre liegt in der
Mitte. Aber Vermittler sind ganz untragisch. Denn es kann nicht ge-
handelt werden, ohne umzustoßen, durch die Vermittler geschieht vielmehr
einfach nichts. Erst die weite Zukunft, wenn der entschiedene Wille schuldig
geworden ist, bringt die wirksame Vermittlung herbei. Antigone kann
nicht den Bruder zugleich begraben und nicht begraben, Kreon nicht ein
Gesetz geben und nicht vollstrecken, aber es bleibt die Aussicht, daß die
blutige Lehre eine Vermittlung in künftigen Fällen, d. h. eine zum voraus
den Conflict vermeidende Mäßigung, eine Humanität des Staates zur
Frucht haben müsse.

§. 137.

Indem nun jede der sittlichen Mächte einem bestimmten Subjecte zufällt,
tritt also nothwendig eine Trennung des schlechtweg gegenseitig sich Fordernden
ein. Das Subject kann vermöge der Schranke seiner Einzelheit nur Eine sitt-
liche Macht zu seinem Lebensgehalte erheben. Nun mag es im betrachtenden
Bewußtseyn den reinen Einklang derselben mit der gegenüberstehenden gerecht
erwägen; aber die Bestimmtheit des Falls fordert bestimmte Handlung; es kann
nur Eines gethan werden. Die abwägende Betrachtung weicht in diesem Ge-
dränge der einseitigen Stärke des Pathos und rechtfertigt nur diese durch den
begründenden Gedanken. Die Leidenschaft im Pathos aber ist zugleich Haß gegen
das andere Pathos und seinen Vertreter; denn der Haß ist die verkehrte Liebe,
die den Unwillen, den das Subject sich selbst schuldig ist, weil es das von dem
einen Pathos geforderte andere nicht zugleich in sich aufnehmen kann, auf den
wirft, der es in sich aufgenommen hat. Gerade die Einheit des Gegensatzes in
der Idee entzweit die Vertreter seiner auf einander gespannten Glieder und
macht sie zu Feinden. So reizt und stört denn die That, wie sie selbst gereizt
ist, die Ruhe der an sich unbewegten Einheit der sich fordernden sittlichen
Mächte.


zwar nur für dieſen Fall, jedoch im Intereſſe des Ganzen gegeben iſt, welches
jede Familie überdauert, Taſſo, der in der Gluth ſeiner Dichternatur
Verſtand und Convenienz bei Seite wirft, Wallenſtein, der das Miß-
trauen Oeſtreichs, welches den Genius nicht ertragen kann, mit Verrath
erwiedert, Göz, der den neuen Landfrieden nicht faſſen kann, ſteht im
Vorrecht unſerer Liebe. Aber es iſt ein Irrthum, wenn man den Helden
des Strebens, der Revolution im Untergang wie einen ganz Unſchuldigen
betrauert; das Beſtehende hat auch ſein Recht. Das Wahre liegt in der
Mitte. Aber Vermittler ſind ganz untragiſch. Denn es kann nicht ge-
handelt werden, ohne umzuſtoßen, durch die Vermittler geſchieht vielmehr
einfach nichts. Erſt die weite Zukunft, wenn der entſchiedene Wille ſchuldig
geworden iſt, bringt die wirkſame Vermittlung herbei. Antigone kann
nicht den Bruder zugleich begraben und nicht begraben, Kreon nicht ein
Geſetz geben und nicht vollſtrecken, aber es bleibt die Ausſicht, daß die
blutige Lehre eine Vermittlung in künftigen Fällen, d. h. eine zum voraus
den Conflict vermeidende Mäßigung, eine Humanität des Staates zur
Frucht haben müſſe.

§. 137.

Indem nun jede der ſittlichen Mächte einem beſtimmten Subjecte zufällt,
tritt alſo nothwendig eine Trennung des ſchlechtweg gegenſeitig ſich Fordernden
ein. Das Subject kann vermöge der Schranke ſeiner Einzelheit nur Eine ſitt-
liche Macht zu ſeinem Lebensgehalte erheben. Nun mag es im betrachtenden
Bewußtſeyn den reinen Einklang derſelben mit der gegenüberſtehenden gerecht
erwägen; aber die Beſtimmtheit des Falls fordert beſtimmte Handlung; es kann
nur Eines gethan werden. Die abwägende Betrachtung weicht in dieſem Ge-
dränge der einſeitigen Stärke des Pathos und rechtfertigt nur dieſe durch den
begründenden Gedanken. Die Leidenſchaft im Pathos aber iſt zugleich Haß gegen
das andere Pathos und ſeinen Vertreter; denn der Haß iſt die verkehrte Liebe,
die den Unwillen, den das Subject ſich ſelbſt ſchuldig iſt, weil es das von dem
einen Pathos geforderte andere nicht zugleich in ſich aufnehmen kann, auf den
wirft, der es in ſich aufgenommen hat. Gerade die Einheit des Gegenſatzes in
der Idee entzweit die Vertreter ſeiner auf einander geſpannten Glieder und
macht ſie zu Feinden. So reizt und ſtört denn die That, wie ſie ſelbſt gereizt
iſt, die Ruhe der an ſich unbewegten Einheit der ſich fordernden ſittlichen
Mächte.


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[316/0330] zwar nur für dieſen Fall, jedoch im Intereſſe des Ganzen gegeben iſt, welches jede Familie überdauert, Taſſo, der in der Gluth ſeiner Dichternatur Verſtand und Convenienz bei Seite wirft, Wallenſtein, der das Miß- trauen Oeſtreichs, welches den Genius nicht ertragen kann, mit Verrath erwiedert, Göz, der den neuen Landfrieden nicht faſſen kann, ſteht im Vorrecht unſerer Liebe. Aber es iſt ein Irrthum, wenn man den Helden des Strebens, der Revolution im Untergang wie einen ganz Unſchuldigen betrauert; das Beſtehende hat auch ſein Recht. Das Wahre liegt in der Mitte. Aber Vermittler ſind ganz untragiſch. Denn es kann nicht ge- handelt werden, ohne umzuſtoßen, durch die Vermittler geſchieht vielmehr einfach nichts. Erſt die weite Zukunft, wenn der entſchiedene Wille ſchuldig geworden iſt, bringt die wirkſame Vermittlung herbei. Antigone kann nicht den Bruder zugleich begraben und nicht begraben, Kreon nicht ein Geſetz geben und nicht vollſtrecken, aber es bleibt die Ausſicht, daß die blutige Lehre eine Vermittlung in künftigen Fällen, d. h. eine zum voraus den Conflict vermeidende Mäßigung, eine Humanität des Staates zur Frucht haben müſſe. §. 137. Indem nun jede der ſittlichen Mächte einem beſtimmten Subjecte zufällt, tritt alſo nothwendig eine Trennung des ſchlechtweg gegenſeitig ſich Fordernden ein. Das Subject kann vermöge der Schranke ſeiner Einzelheit nur Eine ſitt- liche Macht zu ſeinem Lebensgehalte erheben. Nun mag es im betrachtenden Bewußtſeyn den reinen Einklang derſelben mit der gegenüberſtehenden gerecht erwägen; aber die Beſtimmtheit des Falls fordert beſtimmte Handlung; es kann nur Eines gethan werden. Die abwägende Betrachtung weicht in dieſem Ge- dränge der einſeitigen Stärke des Pathos und rechtfertigt nur dieſe durch den begründenden Gedanken. Die Leidenſchaft im Pathos aber iſt zugleich Haß gegen das andere Pathos und ſeinen Vertreter; denn der Haß iſt die verkehrte Liebe, die den Unwillen, den das Subject ſich ſelbſt ſchuldig iſt, weil es das von dem einen Pathos geforderte andere nicht zugleich in ſich aufnehmen kann, auf den wirft, der es in ſich aufgenommen hat. Gerade die Einheit des Gegenſatzes in der Idee entzweit die Vertreter ſeiner auf einander geſpannten Glieder und macht ſie zu Feinden. So reizt und ſtört denn die That, wie ſie ſelbſt gereizt iſt, die Ruhe der an ſich unbewegten Einheit der ſich fordernden ſittlichen Mächte.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/330>, abgerufen am 19.03.2024.