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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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drei versinken. Im geistigen Leben des Menschen nun muß, so scheint
es zunächst nach dem im §. gegebenen Kanon, mit der Höhe des ersten
Gliedes beziehungsweise auch die Höhe des Gegengliedes steigen. Ver-
stand erleidet komische Brechung durch sinnliche Täuschung, Begierde,
unzeitige Rührung, phantastischer Enthusiasmus durch Verstand (Don
Quixote hat seinen Doppelgänger an Sancho Pansa's schlichtem Volks-
verstand, Faust an der unerbittlich negativen Schärfe des Mephistopheles,
Gottwalts überschwengliches Gefühl an Vults Schelmerei und Erfah-
rung), Vernunft durch Phantasie, Bewegungen des Gemüths, hohe
Gesinnungen und Thaten durch Einmischung von Motiven, die, an sich
berechtigt, in dieser Verbindung als unrein erscheinen. Allein es mußte
im §. hinzugesetzt werden, daß die Grenze nicht zu bestimmen sey. Nach
Umständen kann dem noch so erhabenen ersten Gliede ein ganz niedriges
Gegenglied aus der Reihe heraus gegenübertreten, wenn nicht unmittelbar,
doch so, daß ein an sich leidlich bedeutendes Niedrigeres, worein zunächst
das Erhabene versinkt, selbst wieder an ein noch Niedrigeres erinnert.
J. Paul führt z. B. (a. a. O. §. 28) an: so lange predigen, bis
man ausdünstet. Predigen gehört unter die reinsten geistigen Thätig-
keiten und es scheint, als Gegenglied dürfe nichts so ganz Niedriges,
sondern etwa nur Eitelkeit u. dergl. eintreten. Fortpredigen, bis eine
der Gesundheit zuträgliche Ausdünstung eintritt, kann nun wohl so ge-
faßt werden, daß die begleitende Nebenrücksicht auf die Gesundheit nicht
eben so ganz niedrig erscheint, allein im Gegensatz gegen den sehr hohen
Hauptzweck sieht das Hinarbeiten auf Transpiration sogar nach weniger
aus, als es ist, nämlich nach Mechanischem. Aehnlich: alle Samstage
ein Gedicht machen u. dergl. So ist z. B. das Mathematische wohl
geistig, selbst höher, als Affect, sieht aber komisch mechanisch aus, wenn
Herr Rector Fälbel vom schnarchenden Grobian A, vom Wütherich B
spricht u. s. w. Auch kann die geistigste Thätigkeit durch ein so niedrig
stehendes Gegenglied wie Niesen, Rutschen u. dergl. unterbrochen werden.
Dagegen ist der andere Kanon, daß, je weniger an sich erhaben das
erste Glied, um so niedriger das Gegenglied seyn müsse, von weniger
unbestimmter Grenze: die Anstrengungen des Hanswursts können nur
in Straucheln, Fallen u. dergl. endigen.

§. 171.

Wie sehr sich übrigens auf dieser Stufenleiter das Gegenglied verfeinern
und vergeistigen mag, theils erscheint durch die Wirkung des Gegensatzes auch

drei verſinken. Im geiſtigen Leben des Menſchen nun muß, ſo ſcheint
es zunächſt nach dem im §. gegebenen Kanon, mit der Höhe des erſten
Gliedes beziehungsweiſe auch die Höhe des Gegengliedes ſteigen. Ver-
ſtand erleidet komiſche Brechung durch ſinnliche Täuſchung, Begierde,
unzeitige Rührung, phantaſtiſcher Enthuſiaſmus durch Verſtand (Don
Quixote hat ſeinen Doppelgänger an Sancho Panſa’s ſchlichtem Volks-
verſtand, Fauſt an der unerbittlich negativen Schärfe des Mephiſtopheles,
Gottwalts überſchwengliches Gefühl an Vults Schelmerei und Erfah-
rung), Vernunft durch Phantaſie, Bewegungen des Gemüths, hohe
Geſinnungen und Thaten durch Einmiſchung von Motiven, die, an ſich
berechtigt, in dieſer Verbindung als unrein erſcheinen. Allein es mußte
im §. hinzugeſetzt werden, daß die Grenze nicht zu beſtimmen ſey. Nach
Umſtänden kann dem noch ſo erhabenen erſten Gliede ein ganz niedriges
Gegenglied aus der Reihe heraus gegenübertreten, wenn nicht unmittelbar,
doch ſo, daß ein an ſich leidlich bedeutendes Niedrigeres, worein zunächſt
das Erhabene verſinkt, ſelbſt wieder an ein noch Niedrigeres erinnert.
J. Paul führt z. B. (a. a. O. §. 28) an: ſo lange predigen, bis
man ausdünſtet. Predigen gehört unter die reinſten geiſtigen Thätig-
keiten und es ſcheint, als Gegenglied dürfe nichts ſo ganz Niedriges,
ſondern etwa nur Eitelkeit u. dergl. eintreten. Fortpredigen, bis eine
der Geſundheit zuträgliche Ausdünſtung eintritt, kann nun wohl ſo ge-
faßt werden, daß die begleitende Nebenrückſicht auf die Geſundheit nicht
eben ſo ganz niedrig erſcheint, allein im Gegenſatz gegen den ſehr hohen
Hauptzweck ſieht das Hinarbeiten auf Tranſpiration ſogar nach weniger
aus, als es iſt, nämlich nach Mechaniſchem. Aehnlich: alle Samſtage
ein Gedicht machen u. dergl. So iſt z. B. das Mathematiſche wohl
geiſtig, ſelbſt höher, als Affect, ſieht aber komiſch mechaniſch aus, wenn
Herr Rector Fälbel vom ſchnarchenden Grobian A, vom Wütherich B
ſpricht u. ſ. w. Auch kann die geiſtigſte Thätigkeit durch ein ſo niedrig
ſtehendes Gegenglied wie Nieſen, Rutſchen u. dergl. unterbrochen werden.
Dagegen iſt der andere Kanon, daß, je weniger an ſich erhaben das
erſte Glied, um ſo niedriger das Gegenglied ſeyn müſſe, von weniger
unbeſtimmter Grenze: die Anſtrengungen des Hanswurſts können nur
in Straucheln, Fallen u. dergl. endigen.

§. 171.

Wie ſehr ſich übrigens auf dieſer Stufenleiter das Gegenglied verfeinern
und vergeiſtigen mag, theils erſcheint durch die Wirkung des Gegenſatzes auch

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[377/0391] drei verſinken. Im geiſtigen Leben des Menſchen nun muß, ſo ſcheint es zunächſt nach dem im §. gegebenen Kanon, mit der Höhe des erſten Gliedes beziehungsweiſe auch die Höhe des Gegengliedes ſteigen. Ver- ſtand erleidet komiſche Brechung durch ſinnliche Täuſchung, Begierde, unzeitige Rührung, phantaſtiſcher Enthuſiaſmus durch Verſtand (Don Quixote hat ſeinen Doppelgänger an Sancho Panſa’s ſchlichtem Volks- verſtand, Fauſt an der unerbittlich negativen Schärfe des Mephiſtopheles, Gottwalts überſchwengliches Gefühl an Vults Schelmerei und Erfah- rung), Vernunft durch Phantaſie, Bewegungen des Gemüths, hohe Geſinnungen und Thaten durch Einmiſchung von Motiven, die, an ſich berechtigt, in dieſer Verbindung als unrein erſcheinen. Allein es mußte im §. hinzugeſetzt werden, daß die Grenze nicht zu beſtimmen ſey. Nach Umſtänden kann dem noch ſo erhabenen erſten Gliede ein ganz niedriges Gegenglied aus der Reihe heraus gegenübertreten, wenn nicht unmittelbar, doch ſo, daß ein an ſich leidlich bedeutendes Niedrigeres, worein zunächſt das Erhabene verſinkt, ſelbſt wieder an ein noch Niedrigeres erinnert. J. Paul führt z. B. (a. a. O. §. 28) an: ſo lange predigen, bis man ausdünſtet. Predigen gehört unter die reinſten geiſtigen Thätig- keiten und es ſcheint, als Gegenglied dürfe nichts ſo ganz Niedriges, ſondern etwa nur Eitelkeit u. dergl. eintreten. Fortpredigen, bis eine der Geſundheit zuträgliche Ausdünſtung eintritt, kann nun wohl ſo ge- faßt werden, daß die begleitende Nebenrückſicht auf die Geſundheit nicht eben ſo ganz niedrig erſcheint, allein im Gegenſatz gegen den ſehr hohen Hauptzweck ſieht das Hinarbeiten auf Tranſpiration ſogar nach weniger aus, als es iſt, nämlich nach Mechaniſchem. Aehnlich: alle Samſtage ein Gedicht machen u. dergl. So iſt z. B. das Mathematiſche wohl geiſtig, ſelbſt höher, als Affect, ſieht aber komiſch mechaniſch aus, wenn Herr Rector Fälbel vom ſchnarchenden Grobian A, vom Wütherich B ſpricht u. ſ. w. Auch kann die geiſtigſte Thätigkeit durch ein ſo niedrig ſtehendes Gegenglied wie Nieſen, Rutſchen u. dergl. unterbrochen werden. Dagegen iſt der andere Kanon, daß, je weniger an ſich erhaben das erſte Glied, um ſo niedriger das Gegenglied ſeyn müſſe, von weniger unbeſtimmter Grenze: die Anſtrengungen des Hanswurſts können nur in Straucheln, Fallen u. dergl. endigen. §. 171. Wie ſehr ſich übrigens auf dieſer Stufenleiter das Gegenglied verfeinern und vergeiſtigen mag, theils erſcheint durch die Wirkung des Gegenſatzes auch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/391>, abgerufen am 19.03.2024.