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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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wodurch ersetzt wird, was an reicherer symmetrischer Bildung des nur
beim Johannisbrodbaum gefiederten Blatts verloren geht. Alle hier
genannten Bäume sind immergrün und ersetzen dem Süden den schnell
versengten Reiz der Grasfluren. Durch reizende Schlankheit seiner Bildung
macht der Lorbeerbaum den Mythus von Daphne begreiflich, breit und
bequem legt der Johannisbrodbaum sein Dach nahe über den Boden,
durch das grauliche Hellgrün seiner lanzettförmigen Blätter gleicht der
Oelbaum viel unserer Weide, auch sind Stamm und Aeste knorrig wie
bei dieser, allein das Lederartige der Blätter unterscheidet ihn zugleich
streng von ihr, bedingt geringere Beweglichkeit im Winde, verhindert
das Ueberhängen der äußeren Zweige und hält so von dem elegischen
Charakter das Sentimentale ab, was die Weide hat. Auch die Myrten
mit ihren dunkeln, glänzenden Blättern, die immergrünen Eichen und
andere Bäume reihen sich an diese Gruppe an. Endlich ist noch die
südliche Form des Nadelholzes zu erwähnen. Das Nadelholz scheint schon
durch die höchste Zusammenziehung der Blattgefäße, die in ihm auftritt,
den vollsten Gegensatz gegen die Naturfülle, das Oeligte, Gesättigte
darzustellen, was den hier geschilderten Typus bezeichnet, derselbe bildet
aber auch in dieser Gattung Formen aus, welche ihm entsprechen. Die
Cypresse ist, wenn gehörig entwickelt, keineswegs steif, sie sondert sich in
schöne Aeste-Gruppen und ihre Umrisse sind zwar compact, aber in der
Linie wohlgezeichnet. Sie hat ganz die edlen Formen, gibt der Trauer
selbst den vornehmen Anstand der südlichen Vegetation. Die Pinie steigt
hoch hinan und wölbt dann ihre herrliche Kuppel über, von welcher nur
da und dort ein Ast, Zweig sich verirrt und mit seinen Nadelbüscheln geist-
reiche Seitenparthien ansetzt: ganz eine jener befriedigend abgeschlossenen
Formen dieses Typus. Zum ersten Typus hätte als das ihr vorzüglich
eigene Nadelholz die Zeder angeführt werden müssen, wenn sich von der
Form dieses riesigen Baums ohne die nöthigen Anschauungsmittel Rechen-
schaft geben ließe. Die noch stehenden Zedern des Libanon scheinen keine
Vorstellung von den einst berühmten Riesenbäumen zu geben. Die Zeder
ist nicht pinienartig, der Stamm geht durch, aber sie scheint ihre Pyramide
in rund ausgebreiteten Aesten mit hängenden Zweigen stockwerkartig auf-
zubauen und dem einzelnen Stockwerk die weichere kuppelartige Form der
Pinie zu geben.

§. 280.

Ein dritter Typus ist vorzüglich als solcher zu bezeichnen, der eine tief
bewegte subjective Stimmung bewirkt. Er bindet und beruhigt nicht das Auge
durch jene in der Beweglichkeit der Linien zugleich scharf bestimmte Zeichnung,
sondern er ist entweder schneidend starr und steif, erregt aber zugleich ein Gefühl

wodurch erſetzt wird, was an reicherer ſymmetriſcher Bildung des nur
beim Johannisbrodbaum gefiederten Blatts verloren geht. Alle hier
genannten Bäume ſind immergrün und erſetzen dem Süden den ſchnell
verſengten Reiz der Grasfluren. Durch reizende Schlankheit ſeiner Bildung
macht der Lorbeerbaum den Mythus von Daphne begreiflich, breit und
bequem legt der Johannisbrodbaum ſein Dach nahe über den Boden,
durch das grauliche Hellgrün ſeiner lanzettförmigen Blätter gleicht der
Oelbaum viel unſerer Weide, auch ſind Stamm und Aeſte knorrig wie
bei dieſer, allein das Lederartige der Blätter unterſcheidet ihn zugleich
ſtreng von ihr, bedingt geringere Beweglichkeit im Winde, verhindert
das Ueberhängen der äußeren Zweige und hält ſo von dem elegiſchen
Charakter das Sentimentale ab, was die Weide hat. Auch die Myrten
mit ihren dunkeln, glänzenden Blättern, die immergrünen Eichen und
andere Bäume reihen ſich an dieſe Gruppe an. Endlich iſt noch die
ſüdliche Form des Nadelholzes zu erwähnen. Das Nadelholz ſcheint ſchon
durch die höchſte Zuſammenziehung der Blattgefäße, die in ihm auftritt,
den vollſten Gegenſatz gegen die Naturfülle, das Oeligte, Geſättigte
darzuſtellen, was den hier geſchilderten Typus bezeichnet, derſelbe bildet
aber auch in dieſer Gattung Formen aus, welche ihm entſprechen. Die
Cypreſſe iſt, wenn gehörig entwickelt, keineswegs ſteif, ſie ſondert ſich in
ſchöne Aeſte-Gruppen und ihre Umriſſe ſind zwar compact, aber in der
Linie wohlgezeichnet. Sie hat ganz die edlen Formen, gibt der Trauer
ſelbſt den vornehmen Anſtand der ſüdlichen Vegetation. Die Pinie ſteigt
hoch hinan und wölbt dann ihre herrliche Kuppel über, von welcher nur
da und dort ein Aſt, Zweig ſich verirrt und mit ſeinen Nadelbüſcheln geiſt-
reiche Seitenparthien anſetzt: ganz eine jener befriedigend abgeſchloſſenen
Formen dieſes Typus. Zum erſten Typus hätte als das ihr vorzüglich
eigene Nadelholz die Zeder angeführt werden müſſen, wenn ſich von der
Form dieſes rieſigen Baums ohne die nöthigen Anſchauungsmittel Rechen-
ſchaft geben ließe. Die noch ſtehenden Zedern des Libanon ſcheinen keine
Vorſtellung von den einſt berühmten Rieſenbäumen zu geben. Die Zeder
iſt nicht pinienartig, der Stamm geht durch, aber ſie ſcheint ihre Pyramide
in rund ausgebreiteten Aeſten mit hängenden Zweigen ſtockwerkartig auf-
zubauen und dem einzelnen Stockwerk die weichere kuppelartige Form der
Pinie zu geben.

§. 280.

Ein dritter Typus iſt vorzüglich als ſolcher zu bezeichnen, der eine tief
bewegte ſubjective Stimmung bewirkt. Er bindet und beruhigt nicht das Auge
durch jene in der Beweglichkeit der Linien zugleich ſcharf beſtimmte Zeichnung,
ſondern er iſt entweder ſchneidend ſtarr und ſteif, erregt aber zugleich ein Gefühl

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[96/0108] wodurch erſetzt wird, was an reicherer ſymmetriſcher Bildung des nur beim Johannisbrodbaum gefiederten Blatts verloren geht. Alle hier genannten Bäume ſind immergrün und erſetzen dem Süden den ſchnell verſengten Reiz der Grasfluren. Durch reizende Schlankheit ſeiner Bildung macht der Lorbeerbaum den Mythus von Daphne begreiflich, breit und bequem legt der Johannisbrodbaum ſein Dach nahe über den Boden, durch das grauliche Hellgrün ſeiner lanzettförmigen Blätter gleicht der Oelbaum viel unſerer Weide, auch ſind Stamm und Aeſte knorrig wie bei dieſer, allein das Lederartige der Blätter unterſcheidet ihn zugleich ſtreng von ihr, bedingt geringere Beweglichkeit im Winde, verhindert das Ueberhängen der äußeren Zweige und hält ſo von dem elegiſchen Charakter das Sentimentale ab, was die Weide hat. Auch die Myrten mit ihren dunkeln, glänzenden Blättern, die immergrünen Eichen und andere Bäume reihen ſich an dieſe Gruppe an. Endlich iſt noch die ſüdliche Form des Nadelholzes zu erwähnen. Das Nadelholz ſcheint ſchon durch die höchſte Zuſammenziehung der Blattgefäße, die in ihm auftritt, den vollſten Gegenſatz gegen die Naturfülle, das Oeligte, Geſättigte darzuſtellen, was den hier geſchilderten Typus bezeichnet, derſelbe bildet aber auch in dieſer Gattung Formen aus, welche ihm entſprechen. Die Cypreſſe iſt, wenn gehörig entwickelt, keineswegs ſteif, ſie ſondert ſich in ſchöne Aeſte-Gruppen und ihre Umriſſe ſind zwar compact, aber in der Linie wohlgezeichnet. Sie hat ganz die edlen Formen, gibt der Trauer ſelbſt den vornehmen Anſtand der ſüdlichen Vegetation. Die Pinie ſteigt hoch hinan und wölbt dann ihre herrliche Kuppel über, von welcher nur da und dort ein Aſt, Zweig ſich verirrt und mit ſeinen Nadelbüſcheln geiſt- reiche Seitenparthien anſetzt: ganz eine jener befriedigend abgeſchloſſenen Formen dieſes Typus. Zum erſten Typus hätte als das ihr vorzüglich eigene Nadelholz die Zeder angeführt werden müſſen, wenn ſich von der Form dieſes rieſigen Baums ohne die nöthigen Anſchauungsmittel Rechen- ſchaft geben ließe. Die noch ſtehenden Zedern des Libanon ſcheinen keine Vorſtellung von den einſt berühmten Rieſenbäumen zu geben. Die Zeder iſt nicht pinienartig, der Stamm geht durch, aber ſie ſcheint ihre Pyramide in rund ausgebreiteten Aeſten mit hängenden Zweigen ſtockwerkartig auf- zubauen und dem einzelnen Stockwerk die weichere kuppelartige Form der Pinie zu geben. §. 280. Ein dritter Typus iſt vorzüglich als ſolcher zu bezeichnen, der eine tief bewegte ſubjective Stimmung bewirkt. Er bindet und beruhigt nicht das Auge durch jene in der Beweglichkeit der Linien zugleich ſcharf beſtimmte Zeichnung, ſondern er iſt entweder ſchneidend ſtarr und ſteif, erregt aber zugleich ein Gefühl

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/108>, abgerufen am 26.04.2024.