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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Stachelbusche schießt die Aloe empor, durch Zuckerrohr säuselt der laue
Wind, die Lotosblume schließt den geheimnißvollen Kelch in den Wellen
auf. Hier hat ferner die Natur die prachtvollsten und gewaltigsten
Exemplare der einzelnen Geschlechter der Thierwelt ausgeschüttet, die
glänzendsten Muscheln, Insecten, die schönsten und furchtbarsten Amphibien,
die brillantesten, lebhaftesten, wunderlichsten Vögel, Papageien, Fasanen,
Leiervögel, Pfauen, den rothen Flamingo, den Strauß; unter den Säuge-
thieren treten als Wiederkauer die zierlichen Antilopen auf, das seltsame
Kameel, das Schiff der Wüste, die hochgestreckte Giraffe, vom Schweine-
geschlecht der majestätische Elephant, das massige Nilpferd und Rhinoceros,
vom Katzengeschlechte Tiger und Löwen, und in den üppigen Wäldern
lärmt der Affe. Hier ist Lust und Dienst, aber auch Gefahr und Gift
aller Art. Es ist eine Natur, die in Extreme überspringt; nicht in das
der dauernden Kälte (diese bedingt sogleich einen total verschiedenen
Volkscharakter), sondern in das der trockenen, verzehrenden, und in das
der feuchten, befruchtenden Hitze. Der Typus der orientalischen Völker,
wie er dieser umgebenden Natur entspricht, ist freilich ebenso verschieden,
wie diese selbst in ihren näheren Unterschieden, die wir hier zur Seite
lassen müssen; im Allgemeinen aber ist das orientalische Gesicht das vogel-
artig vorstrebende, das Adlergesicht. Die Stirne ist gedankenvoll hoch,
aber zurückfliegend, das Auge weit und rund, feucht schimmernd, von
dunkler Farbe, die Nase scharf gebogen, die Lippen voll, doch fein-
geschlossen und wie zum Lächeln an den Mundwinkeln aufgezogen, das
Kinn etwas spitz vortretend, reiche dunkle Locken fassen das scharfe Oval
ein. Schärfe aller Sinne, vordringende Genußsucht, Raschheit zu zer-
störender That spricht aus dem Profil, aber erhabenes Schweigen brütet
über dem feinen Bogen der Augbraunen, Versenkung ins Naturleben
athmet in dem ganzen heißen Sonnenton dieser Köpfe, aus der braunen
Farbe der Haut. Die Gestalten sind kräftig und doch in den Gelenken
wieder so weich, geschmeidig, in den Hüften weiblich breit, daß sie zwar
der größten Anstrengung fähig erscheinen, aber auch plötzliche Erschlaffung
befürchten lassen. Es fehlt ein schließlicher Halt, das Stählerne im Wuchse
und Muskelleben der Völker gemäßigterer Zone. Haltung und Bewegung
ist feierlich gemessen, voll ursprünglichen Ernstes substantiellen, primitiven
Daseins, aber das Tamburin, die Cymbel dröhnt, die Kastagnetten
klappern und der Gaukler wirft die Glieder durcheinander, als hätte er
keine Knochen noch Sehnen, und im trunkenen Tanze scheint der ganze
Leib auseinanderzufallen. Das Temperament ist entschieden dualistisch und
dieß widerspricht dem Satze nicht, daß wir hier Völker vor uns haben,
die sich in unmittelbarer Einheit des Geistes und der Natur bewegen;
nur das Ebenmaß und Gleichgewicht dieser Einheit ist noch nicht ein-

Stachelbuſche ſchießt die Aloe empor, durch Zuckerrohr ſäuſelt der laue
Wind, die Lotosblume ſchließt den geheimnißvollen Kelch in den Wellen
auf. Hier hat ferner die Natur die prachtvollſten und gewaltigſten
Exemplare der einzelnen Geſchlechter der Thierwelt ausgeſchüttet, die
glänzendſten Muſcheln, Inſecten, die ſchönſten und furchtbarſten Amphibien,
die brillanteſten, lebhafteſten, wunderlichſten Vögel, Papageien, Faſanen,
Leiervögel, Pfauen, den rothen Flamingo, den Strauß; unter den Säuge-
thieren treten als Wiederkauer die zierlichen Antilopen auf, das ſeltſame
Kameel, das Schiff der Wüſte, die hochgeſtreckte Giraffe, vom Schweine-
geſchlecht der majeſtätiſche Elephant, das maſſige Nilpferd und Rhinoceros,
vom Katzengeſchlechte Tiger und Löwen, und in den üppigen Wäldern
lärmt der Affe. Hier iſt Luſt und Dienſt, aber auch Gefahr und Gift
aller Art. Es iſt eine Natur, die in Extreme überſpringt; nicht in das
der dauernden Kälte (dieſe bedingt ſogleich einen total verſchiedenen
Volkscharakter), ſondern in das der trockenen, verzehrenden, und in das
der feuchten, befruchtenden Hitze. Der Typus der orientaliſchen Völker,
wie er dieſer umgebenden Natur entſpricht, iſt freilich ebenſo verſchieden,
wie dieſe ſelbſt in ihren näheren Unterſchieden, die wir hier zur Seite
laſſen müſſen; im Allgemeinen aber iſt das orientaliſche Geſicht das vogel-
artig vorſtrebende, das Adlergeſicht. Die Stirne iſt gedankenvoll hoch,
aber zurückfliegend, das Auge weit und rund, feucht ſchimmernd, von
dunkler Farbe, die Naſe ſcharf gebogen, die Lippen voll, doch fein-
geſchloſſen und wie zum Lächeln an den Mundwinkeln aufgezogen, das
Kinn etwas ſpitz vortretend, reiche dunkle Locken faſſen das ſcharfe Oval
ein. Schärfe aller Sinne, vordringende Genußſucht, Raſchheit zu zer-
ſtörender That ſpricht aus dem Profil, aber erhabenes Schweigen brütet
über dem feinen Bogen der Augbraunen, Verſenkung ins Naturleben
athmet in dem ganzen heißen Sonnenton dieſer Köpfe, aus der braunen
Farbe der Haut. Die Geſtalten ſind kräftig und doch in den Gelenken
wieder ſo weich, geſchmeidig, in den Hüften weiblich breit, daß ſie zwar
der größten Anſtrengung fähig erſcheinen, aber auch plötzliche Erſchlaffung
befürchten laſſen. Es fehlt ein ſchließlicher Halt, das Stählerne im Wuchſe
und Muskelleben der Völker gemäßigterer Zone. Haltung und Bewegung
iſt feierlich gemeſſen, voll urſprünglichen Ernſtes ſubſtantiellen, primitiven
Daſeins, aber das Tamburin, die Cymbel dröhnt, die Kaſtagnetten
klappern und der Gaukler wirft die Glieder durcheinander, als hätte er
keine Knochen noch Sehnen, und im trunkenen Tanze ſcheint der ganze
Leib auseinanderzufallen. Das Temperament iſt entſchieden dualiſtiſch und
dieß widerſpricht dem Satze nicht, daß wir hier Völker vor uns haben,
die ſich in unmittelbarer Einheit des Geiſtes und der Natur bewegen;
nur das Ebenmaß und Gleichgewicht dieſer Einheit iſt noch nicht ein-

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[224/0236] Stachelbuſche ſchießt die Aloe empor, durch Zuckerrohr ſäuſelt der laue Wind, die Lotosblume ſchließt den geheimnißvollen Kelch in den Wellen auf. Hier hat ferner die Natur die prachtvollſten und gewaltigſten Exemplare der einzelnen Geſchlechter der Thierwelt ausgeſchüttet, die glänzendſten Muſcheln, Inſecten, die ſchönſten und furchtbarſten Amphibien, die brillanteſten, lebhafteſten, wunderlichſten Vögel, Papageien, Faſanen, Leiervögel, Pfauen, den rothen Flamingo, den Strauß; unter den Säuge- thieren treten als Wiederkauer die zierlichen Antilopen auf, das ſeltſame Kameel, das Schiff der Wüſte, die hochgeſtreckte Giraffe, vom Schweine- geſchlecht der majeſtätiſche Elephant, das maſſige Nilpferd und Rhinoceros, vom Katzengeſchlechte Tiger und Löwen, und in den üppigen Wäldern lärmt der Affe. Hier iſt Luſt und Dienſt, aber auch Gefahr und Gift aller Art. Es iſt eine Natur, die in Extreme überſpringt; nicht in das der dauernden Kälte (dieſe bedingt ſogleich einen total verſchiedenen Volkscharakter), ſondern in das der trockenen, verzehrenden, und in das der feuchten, befruchtenden Hitze. Der Typus der orientaliſchen Völker, wie er dieſer umgebenden Natur entſpricht, iſt freilich ebenſo verſchieden, wie dieſe ſelbſt in ihren näheren Unterſchieden, die wir hier zur Seite laſſen müſſen; im Allgemeinen aber iſt das orientaliſche Geſicht das vogel- artig vorſtrebende, das Adlergeſicht. Die Stirne iſt gedankenvoll hoch, aber zurückfliegend, das Auge weit und rund, feucht ſchimmernd, von dunkler Farbe, die Naſe ſcharf gebogen, die Lippen voll, doch fein- geſchloſſen und wie zum Lächeln an den Mundwinkeln aufgezogen, das Kinn etwas ſpitz vortretend, reiche dunkle Locken faſſen das ſcharfe Oval ein. Schärfe aller Sinne, vordringende Genußſucht, Raſchheit zu zer- ſtörender That ſpricht aus dem Profil, aber erhabenes Schweigen brütet über dem feinen Bogen der Augbraunen, Verſenkung ins Naturleben athmet in dem ganzen heißen Sonnenton dieſer Köpfe, aus der braunen Farbe der Haut. Die Geſtalten ſind kräftig und doch in den Gelenken wieder ſo weich, geſchmeidig, in den Hüften weiblich breit, daß ſie zwar der größten Anſtrengung fähig erſcheinen, aber auch plötzliche Erſchlaffung befürchten laſſen. Es fehlt ein ſchließlicher Halt, das Stählerne im Wuchſe und Muskelleben der Völker gemäßigterer Zone. Haltung und Bewegung iſt feierlich gemeſſen, voll urſprünglichen Ernſtes ſubſtantiellen, primitiven Daſeins, aber das Tamburin, die Cymbel dröhnt, die Kaſtagnetten klappern und der Gaukler wirft die Glieder durcheinander, als hätte er keine Knochen noch Sehnen, und im trunkenen Tanze ſcheint der ganze Leib auseinanderzufallen. Das Temperament iſt entſchieden dualiſtiſch und dieß widerſpricht dem Satze nicht, daß wir hier Völker vor uns haben, die ſich in unmittelbarer Einheit des Geiſtes und der Natur bewegen; nur das Ebenmaß und Gleichgewicht dieſer Einheit iſt noch nicht ein-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/236>, abgerufen am 26.04.2024.