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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Die Darstellung des griechischen Volkscharakters §. 348 ff. über-
hebt uns einer weiteren Auseinandersetzung des bruchlosen Verhältnisses
zwischen Geist und Sinnlichkeit im griechischen Ideal; naturwüchsig, wie
die ganze Bildung dieses Volks war, liberal, sinnlich sittlich, so mußte
auch sein Ideal sein, das Geistige mußte in ihm in die ganze Leiblich-
keit ohne Rest von Innerlichkeit ergossen, mußte "leibliche unerinnerte
Gegenwart" sein (Hegel a. a. O. Th. 2, S. 234). Nun hat sich aber
auf diesem Punkte eine logische Ungenauigkeit in die Aesthetik eingeschlichen;
man spricht, als wäre ebendieß schlechtweg das Ideal gewesen. Allein
die von der griechischen ganz verschiedene Aufgabe, eine Gestalt aufzu-
stellen, in welcher der Ausdruck über die leibliche Form überwiegt, in
welcher eine Innerlichkeit sich kundgibt, welche eine zu große Tiefe hat,
um ihr organisches Gefäß so bis an den Rand zu füllen, daß nicht im-
mer noch eine unerschöpfte Unendlichkeit zurückbliebe: diese Aufgabe kann
ebenfalls und soll auf ganz ideale Weise gelöst werden; denn ebendieß,
daß das innere Leben über sein leibliches Gefäß unendlich hinausgeht,
kann und soll durch die ästhetische Behandlung dieses Gefäßes vollständig
dargestellt werden, so daß dennoch in diesem Sinne das Innere und
Aeußere auch hier sich decken. Im Ideal Christi ist die ganze Negativität
des geistigen Lebens darzustellen und dennoch so, daß die Phantasie eben-
diese Aufgabe ganz naiv, ganz unmittelbar und mit Einem Schlage löst.
Berührt haben wir diesen Punkt schon zu §. 425, Anm. 1. Allein das
ist wahr, daß diese Aufgabe schwerer ist, daß es nahe liegt, statt die
Unzulänglichkeit des Leiblichen zulänglich darzustellen, die Unzulänglichkeit
in die Darstellung und Behandlung zu legen und zu meinen, durch Steife,
Dürftigkeit der Phantasie, durch Körperlosigkeit sprechend, ausdrucksvoll
zu werden. Da stehen dann die Griechen als Classiker, als "ein ge-
wisser Adel unter den Schriftstellern" (Kant Kr. d. ästh. Urthlskr. §. 32)
und hat die Phantasie von ihnen als ewigen Mustern zu lernen, wie sie
zwar nicht dasselbe, aber gleich ihnen das, was sie sagt, ganz sagen
soll, rund, völlig, compact. Daß ein Rest von Innerlichkeit sei, der nicht
ganz heraus will, ebendieß soll dann die Gestalt ohne Rest ausdrücken.

§. 439.

1

Dieses Ideal hervorzubringen ist Sache der bildenden Phantasie und
zwar der auf das tastende Sehen begründeten (§. 404); denn das bruchlos
ergossene Innere muß als organisch immanentes Maaß im Körper als schönem
Gewächse auch die festen Formen desselben so durchdringen, daß eine reine
Einheit des Gemessenen und Ungemessenen sich bildet, welche weder gemessen,
noch blos als flüchtiger Licht- und Farben-Schein erfaßt werden kann, sondern

Die Darſtellung des griechiſchen Volkscharakters §. 348 ff. über-
hebt uns einer weiteren Auseinanderſetzung des bruchloſen Verhältniſſes
zwiſchen Geiſt und Sinnlichkeit im griechiſchen Ideal; naturwüchſig, wie
die ganze Bildung dieſes Volks war, liberal, ſinnlich ſittlich, ſo mußte
auch ſein Ideal ſein, das Geiſtige mußte in ihm in die ganze Leiblich-
keit ohne Reſt von Innerlichkeit ergoſſen, mußte „leibliche unerinnerte
Gegenwart“ ſein (Hegel a. a. O. Th. 2, S. 234). Nun hat ſich aber
auf dieſem Punkte eine logiſche Ungenauigkeit in die Aeſthetik eingeſchlichen;
man ſpricht, als wäre ebendieß ſchlechtweg das Ideal geweſen. Allein
die von der griechiſchen ganz verſchiedene Aufgabe, eine Geſtalt aufzu-
ſtellen, in welcher der Ausdruck über die leibliche Form überwiegt, in
welcher eine Innerlichkeit ſich kundgibt, welche eine zu große Tiefe hat,
um ihr organiſches Gefäß ſo bis an den Rand zu füllen, daß nicht im-
mer noch eine unerſchöpfte Unendlichkeit zurückbliebe: dieſe Aufgabe kann
ebenfalls und ſoll auf ganz ideale Weiſe gelöst werden; denn ebendieß,
daß das innere Leben über ſein leibliches Gefäß unendlich hinausgeht,
kann und ſoll durch die äſthetiſche Behandlung dieſes Gefäßes vollſtändig
dargeſtellt werden, ſo daß dennoch in dieſem Sinne das Innere und
Aeußere auch hier ſich decken. Im Ideal Chriſti iſt die ganze Negativität
des geiſtigen Lebens darzuſtellen und dennoch ſo, daß die Phantaſie eben-
dieſe Aufgabe ganz naiv, ganz unmittelbar und mit Einem Schlage löst.
Berührt haben wir dieſen Punkt ſchon zu §. 425, Anm. 1. Allein das
iſt wahr, daß dieſe Aufgabe ſchwerer iſt, daß es nahe liegt, ſtatt die
Unzulänglichkeit des Leiblichen zulänglich darzuſtellen, die Unzulänglichkeit
in die Darſtellung und Behandlung zu legen und zu meinen, durch Steife,
Dürftigkeit der Phantaſie, durch Körperloſigkeit ſprechend, ausdrucksvoll
zu werden. Da ſtehen dann die Griechen als Claſſiker, als „ein ge-
wiſſer Adel unter den Schriftſtellern“ (Kant Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 32)
und hat die Phantaſie von ihnen als ewigen Muſtern zu lernen, wie ſie
zwar nicht daſſelbe, aber gleich ihnen das, was ſie ſagt, ganz ſagen
ſoll, rund, völlig, compact. Daß ein Reſt von Innerlichkeit ſei, der nicht
ganz heraus will, ebendieß ſoll dann die Geſtalt ohne Reſt ausdrücken.

§. 439.

1

Dieſes Ideal hervorzubringen iſt Sache der bildenden Phantaſie und
zwar der auf das taſtende Sehen begründeten (§. 404); denn das bruchlos
ergoſſene Innere muß als organiſch immanentes Maaß im Körper als ſchönem
Gewächſe auch die feſten Formen deſſelben ſo durchdringen, daß eine reine
Einheit des Gemeſſenen und Ungemeſſenen ſich bildet, welche weder gemeſſen,
noch blos als flüchtiger Licht- und Farben-Schein erfaßt werden kann, ſondern

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[460/0174] Die Darſtellung des griechiſchen Volkscharakters §. 348 ff. über- hebt uns einer weiteren Auseinanderſetzung des bruchloſen Verhältniſſes zwiſchen Geiſt und Sinnlichkeit im griechiſchen Ideal; naturwüchſig, wie die ganze Bildung dieſes Volks war, liberal, ſinnlich ſittlich, ſo mußte auch ſein Ideal ſein, das Geiſtige mußte in ihm in die ganze Leiblich- keit ohne Reſt von Innerlichkeit ergoſſen, mußte „leibliche unerinnerte Gegenwart“ ſein (Hegel a. a. O. Th. 2, S. 234). Nun hat ſich aber auf dieſem Punkte eine logiſche Ungenauigkeit in die Aeſthetik eingeſchlichen; man ſpricht, als wäre ebendieß ſchlechtweg das Ideal geweſen. Allein die von der griechiſchen ganz verſchiedene Aufgabe, eine Geſtalt aufzu- ſtellen, in welcher der Ausdruck über die leibliche Form überwiegt, in welcher eine Innerlichkeit ſich kundgibt, welche eine zu große Tiefe hat, um ihr organiſches Gefäß ſo bis an den Rand zu füllen, daß nicht im- mer noch eine unerſchöpfte Unendlichkeit zurückbliebe: dieſe Aufgabe kann ebenfalls und ſoll auf ganz ideale Weiſe gelöst werden; denn ebendieß, daß das innere Leben über ſein leibliches Gefäß unendlich hinausgeht, kann und ſoll durch die äſthetiſche Behandlung dieſes Gefäßes vollſtändig dargeſtellt werden, ſo daß dennoch in dieſem Sinne das Innere und Aeußere auch hier ſich decken. Im Ideal Chriſti iſt die ganze Negativität des geiſtigen Lebens darzuſtellen und dennoch ſo, daß die Phantaſie eben- dieſe Aufgabe ganz naiv, ganz unmittelbar und mit Einem Schlage löst. Berührt haben wir dieſen Punkt ſchon zu §. 425, Anm. 1. Allein das iſt wahr, daß dieſe Aufgabe ſchwerer iſt, daß es nahe liegt, ſtatt die Unzulänglichkeit des Leiblichen zulänglich darzuſtellen, die Unzulänglichkeit in die Darſtellung und Behandlung zu legen und zu meinen, durch Steife, Dürftigkeit der Phantaſie, durch Körperloſigkeit ſprechend, ausdrucksvoll zu werden. Da ſtehen dann die Griechen als Claſſiker, als „ein ge- wiſſer Adel unter den Schriftſtellern“ (Kant Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 32) und hat die Phantaſie von ihnen als ewigen Muſtern zu lernen, wie ſie zwar nicht daſſelbe, aber gleich ihnen das, was ſie ſagt, ganz ſagen ſoll, rund, völlig, compact. Daß ein Reſt von Innerlichkeit ſei, der nicht ganz heraus will, ebendieß ſoll dann die Geſtalt ohne Reſt ausdrücken. §. 439. Dieſes Ideal hervorzubringen iſt Sache der bildenden Phantaſie und zwar der auf das taſtende Sehen begründeten (§. 404); denn das bruchlos ergoſſene Innere muß als organiſch immanentes Maaß im Körper als ſchönem Gewächſe auch die feſten Formen deſſelben ſo durchdringen, daß eine reine Einheit des Gemeſſenen und Ungemeſſenen ſich bildet, welche weder gemeſſen, noch blos als flüchtiger Licht- und Farben-Schein erfaßt werden kann, ſondern

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/174>, abgerufen am 27.04.2024.