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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Der beliebteste Kreis ist das Familienleben, es ist in den Himmel
versetzt. Das neue Herz, das den mythischen Wesen gegeben ist, leuchtet
am innigsten aus der göttlichen Mutter mit dem Kinde. Aber auch die
weltliche Liebe und alle die verborgenen Schönheiten des nicht öffentlichen
Lebens, das bei den Alten so wenig Bedeutung haben konnte, entfalten
ihre stille Heimlichkeit. Man gibt und empfängt; der Herrlichkeit des Ge-
müthslebens, die in den Himmel versetzt ist, fließen rückwirkend von da
wieder die Strahlen der himmlischen Weihe zu. Das politische Leben
konnte natürlich ebensowenig im Sinne ursprünglichen Stoffes Gegenstand
der Phantasie werden, als es (§. 450 Anm. 2) in den Göttern vertreten
war. Mit diesem Stoffe sind aber nothwendig auch die sinnlich freieren
unter den Culturthätigkeiten, welche dem Staate zu Grund liegen, ausge-
schlossen. Krieg, Jagd u. dergl., sofern dabei nicht Beziehung auf einen
heiligen Zweck ist, liegt ferne, aber das sanfte Hirtenleben, die trauliche
Hütte des Zimmermanns, die behaglich enge Studirstube eines St. Hie-
ronymus thut sich als bescheidener Tempel stillen Friedens auf. Ferner
treten natürlich eine Menge unbestimmter Situationssphären auf, welche
den Schauplatz zu den Abentheuern des Einzelnen bilden. Aber man
darf nicht erwarten, daß dieses Ideal auch nur die Stoffe, die ihm das
reale Leben seiner Zeit darbietet, wirklich ausbeute. Die feudalen Zu-
stände hätten nicht mehr bestehen können, wenn man gleichzeitig fähig ge-
wesen wäre, ein deutliches Bild von ihnen zu geben; nur vereinzelte
Motive werden davon aufgenommen. Der Cultus dagegen spiegelt sich
natürlich in den Entwürfen dieser Phantasie, doch nicht eigentlich in einem
objectiven Bilde: er ist denjenigen, denen er absolute Nothwendigkeit ist,
nicht gegenständlich. Eine Prozession z. B. wird nicht als ästhetische
Erscheinung an und für sich dargestellt, sondern ein Wunder, das dabei
geschieht, ist die Aufgabe. Alle so verengten Kreise aber drängen auf die
neu aufgeschlossene Bedeutung der Individualität hin, die wir nun weiter
verfolgen.

§. 453.

Diese Bedeutung der Individualität ist aber keine unmittelbare; sie trennt
sich von sich selbst, entäußert sich ihrer Sinnlichkeit und ihres Eigenwillens und
gelangt erst vermittelst dieses Sterbens bei sich und ihrem unendlichen Leben an.
Durch dieses Insichgehen ist die unmittelbare Einheit der Gestalt und ihres
Innern gebrochen, jene erscheint nur als ein für sich unselbständiges Gewand,
das als durchsichtiger Schleier hinter sich deutet auf eine geistige Tiefe, die
keine sinnliche Form erschöpft. Der Ausdruck geht über sein begrenztes Organ
unendlich hinaus.


Der beliebteſte Kreis iſt das Familienleben, es iſt in den Himmel
verſetzt. Das neue Herz, das den mythiſchen Weſen gegeben iſt, leuchtet
am innigſten aus der göttlichen Mutter mit dem Kinde. Aber auch die
weltliche Liebe und alle die verborgenen Schönheiten des nicht öffentlichen
Lebens, das bei den Alten ſo wenig Bedeutung haben konnte, entfalten
ihre ſtille Heimlichkeit. Man gibt und empfängt; der Herrlichkeit des Ge-
müthslebens, die in den Himmel verſetzt iſt, fließen rückwirkend von da
wieder die Strahlen der himmliſchen Weihe zu. Das politiſche Leben
konnte natürlich ebenſowenig im Sinne urſprünglichen Stoffes Gegenſtand
der Phantaſie werden, als es (§. 450 Anm. 2) in den Göttern vertreten
war. Mit dieſem Stoffe ſind aber nothwendig auch die ſinnlich freieren
unter den Culturthätigkeiten, welche dem Staate zu Grund liegen, ausge-
ſchloſſen. Krieg, Jagd u. dergl., ſofern dabei nicht Beziehung auf einen
heiligen Zweck iſt, liegt ferne, aber das ſanfte Hirtenleben, die trauliche
Hütte des Zimmermanns, die behaglich enge Studirſtube eines St. Hie-
ronymus thut ſich als beſcheidener Tempel ſtillen Friedens auf. Ferner
treten natürlich eine Menge unbeſtimmter Situationsſphären auf, welche
den Schauplatz zu den Abentheuern des Einzelnen bilden. Aber man
darf nicht erwarten, daß dieſes Ideal auch nur die Stoffe, die ihm das
reale Leben ſeiner Zeit darbietet, wirklich ausbeute. Die feudalen Zu-
ſtände hätten nicht mehr beſtehen können, wenn man gleichzeitig fähig ge-
weſen wäre, ein deutliches Bild von ihnen zu geben; nur vereinzelte
Motive werden davon aufgenommen. Der Cultus dagegen ſpiegelt ſich
natürlich in den Entwürfen dieſer Phantaſie, doch nicht eigentlich in einem
objectiven Bilde: er iſt denjenigen, denen er abſolute Nothwendigkeit iſt,
nicht gegenſtändlich. Eine Prozeſſion z. B. wird nicht als äſthetiſche
Erſcheinung an und für ſich dargeſtellt, ſondern ein Wunder, das dabei
geſchieht, iſt die Aufgabe. Alle ſo verengten Kreiſe aber drängen auf die
neu aufgeſchloſſene Bedeutung der Individualität hin, die wir nun weiter
verfolgen.

§. 453.

Dieſe Bedeutung der Individualität iſt aber keine unmittelbare; ſie trennt
ſich von ſich ſelbſt, entäußert ſich ihrer Sinnlichkeit und ihres Eigenwillens und
gelangt erſt vermittelſt dieſes Sterbens bei ſich und ihrem unendlichen Leben an.
Durch dieſes Inſichgehen iſt die unmittelbare Einheit der Geſtalt und ihres
Innern gebrochen, jene erſcheint nur als ein für ſich unſelbſtändiges Gewand,
das als durchſichtiger Schleier hinter ſich deutet auf eine geiſtige Tiefe, die
keine ſinnliche Form erſchöpft. Der Ausdruck geht über ſein begrenztes Organ
unendlich hinaus.


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[481/0195] Der beliebteſte Kreis iſt das Familienleben, es iſt in den Himmel verſetzt. Das neue Herz, das den mythiſchen Weſen gegeben iſt, leuchtet am innigſten aus der göttlichen Mutter mit dem Kinde. Aber auch die weltliche Liebe und alle die verborgenen Schönheiten des nicht öffentlichen Lebens, das bei den Alten ſo wenig Bedeutung haben konnte, entfalten ihre ſtille Heimlichkeit. Man gibt und empfängt; der Herrlichkeit des Ge- müthslebens, die in den Himmel verſetzt iſt, fließen rückwirkend von da wieder die Strahlen der himmliſchen Weihe zu. Das politiſche Leben konnte natürlich ebenſowenig im Sinne urſprünglichen Stoffes Gegenſtand der Phantaſie werden, als es (§. 450 Anm. 2) in den Göttern vertreten war. Mit dieſem Stoffe ſind aber nothwendig auch die ſinnlich freieren unter den Culturthätigkeiten, welche dem Staate zu Grund liegen, ausge- ſchloſſen. Krieg, Jagd u. dergl., ſofern dabei nicht Beziehung auf einen heiligen Zweck iſt, liegt ferne, aber das ſanfte Hirtenleben, die trauliche Hütte des Zimmermanns, die behaglich enge Studirſtube eines St. Hie- ronymus thut ſich als beſcheidener Tempel ſtillen Friedens auf. Ferner treten natürlich eine Menge unbeſtimmter Situationsſphären auf, welche den Schauplatz zu den Abentheuern des Einzelnen bilden. Aber man darf nicht erwarten, daß dieſes Ideal auch nur die Stoffe, die ihm das reale Leben ſeiner Zeit darbietet, wirklich ausbeute. Die feudalen Zu- ſtände hätten nicht mehr beſtehen können, wenn man gleichzeitig fähig ge- weſen wäre, ein deutliches Bild von ihnen zu geben; nur vereinzelte Motive werden davon aufgenommen. Der Cultus dagegen ſpiegelt ſich natürlich in den Entwürfen dieſer Phantaſie, doch nicht eigentlich in einem objectiven Bilde: er iſt denjenigen, denen er abſolute Nothwendigkeit iſt, nicht gegenſtändlich. Eine Prozeſſion z. B. wird nicht als äſthetiſche Erſcheinung an und für ſich dargeſtellt, ſondern ein Wunder, das dabei geſchieht, iſt die Aufgabe. Alle ſo verengten Kreiſe aber drängen auf die neu aufgeſchloſſene Bedeutung der Individualität hin, die wir nun weiter verfolgen. §. 453. Dieſe Bedeutung der Individualität iſt aber keine unmittelbare; ſie trennt ſich von ſich ſelbſt, entäußert ſich ihrer Sinnlichkeit und ihres Eigenwillens und gelangt erſt vermittelſt dieſes Sterbens bei ſich und ihrem unendlichen Leben an. Durch dieſes Inſichgehen iſt die unmittelbare Einheit der Geſtalt und ihres Innern gebrochen, jene erſcheint nur als ein für ſich unſelbſtändiges Gewand, das als durchſichtiger Schleier hinter ſich deutet auf eine geiſtige Tiefe, die keine ſinnliche Form erſchöpft. Der Ausdruck geht über ſein begrenztes Organ unendlich hinaus.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/195>, abgerufen am 26.04.2024.