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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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dend, so daß die architektonische Art das ruhende Götterbild, die malerische
Art das menschliche Genre und die bewegte handelnde Gruppe zum Ge-
genstand hat, oder historische Style begründend als eine Weise, alle Zweige
zu behandeln, wie solche in der Geschichte der Plastik sich zeigen wird.
Die malerische Phantasie kann in mancherlei Sinn die plastische, die em-
pfindende, die dichtende in sich aufnehmen, ebenfalls noch abgesehen von
Verletzungen ihres Wesens. Plastisch verfährt sie theils überhaupt, wenn
die Zeichnung vorwiegt, theils wenn sie das, ihr zwar fremdere, Gebiet
der von bruchlosem Seelenleben ruhig erfüllten Gestalt anbaut, musikalisch
in der Landschaft, in allen Werken, wo in der höchsten Magie des Hell-
dunkels, des Licht- und Farbenscheins die Bedeutung der Gestalt zurück-
tritt, dichtend in großen, episch geordneten Cyklen, in dramatisch bewegten
historischen Stoffen. Auf andere Weise werden wir in der Geschichte der
Style, wie er den Haupt-Epochen des Ideals entspricht, den Unterschied
dieser Standpunkte wiederkehren sehen. Die empfindende Phantasie wirkt
objectiv, der bildenden ähnlich, als einfache religiöse Musik, subjectiv-
objectiv, der dichtenden ähnlich, als Oratorium (Epos) und Oper (Drama);
in geschichtlicher Beziehung erscheint die alte Musik, wo der Rhythmus
vorherrscht, bildend oder plastisch, die Herrschaft der Harmonie in der
neueren ächt musikalisch, dem Malerischen verwandter. Auf die weiteren
Verbindungen in den Unterarten können wir nicht eingehen, sondern nur
andeuten, wie z. B. die dichtende Phantasie da, wo sie die empfindende
in sich wiederholt, wieder innerhalb dieses Bodens den Standpunkt der
bildenden in der Romanze und Ballade, in anderem Sinn in der Hymne
und Ode, den der dramatisch dichtenden in den bewegten dialogischen
Balladen hervortreten läßt, den der rein subjectiven Empfindung aber
dem Liede vorbehält, ferner wie z. B. die sogenannte historische Landschaft
plastisch, die individuelle, localere ächt malerisch, oder wenn man will,
mehr musikalisch, mehr dichterisch ist.

§. 405.

In der dichtenden Phantasie tritt vermöge der Innerlichkeit ihrer ganzen
Gestaltung, unbeschadet der Grund-Einheit von Idee und Bild im Ganzen
des ästhetischen Körpers, eine relative Trennbarkeit dieser Elemente ein: sie
kann als vergleichende auch eine fremde Idee in ein fremdes Bild legen.

Hier wird zum erstenmal von einem Verfahren der Phantasie die
Rede, das sonst in seinen verschiedenen Formen schon in die allgemeine
Lehre von diesem Organe des Schönen aufgenommen zu werden pflegt.

dend, ſo daß die architektoniſche Art das ruhende Götterbild, die maleriſche
Art das menſchliche Genre und die bewegte handelnde Gruppe zum Ge-
genſtand hat, oder hiſtoriſche Style begründend als eine Weiſe, alle Zweige
zu behandeln, wie ſolche in der Geſchichte der Plaſtik ſich zeigen wird.
Die maleriſche Phantaſie kann in mancherlei Sinn die plaſtiſche, die em-
pfindende, die dichtende in ſich aufnehmen, ebenfalls noch abgeſehen von
Verletzungen ihres Weſens. Plaſtiſch verfährt ſie theils überhaupt, wenn
die Zeichnung vorwiegt, theils wenn ſie das, ihr zwar fremdere, Gebiet
der von bruchloſem Seelenleben ruhig erfüllten Geſtalt anbaut, muſikaliſch
in der Landſchaft, in allen Werken, wo in der höchſten Magie des Hell-
dunkels, des Licht- und Farbenſcheins die Bedeutung der Geſtalt zurück-
tritt, dichtend in großen, epiſch geordneten Cyklen, in dramatiſch bewegten
hiſtoriſchen Stoffen. Auf andere Weiſe werden wir in der Geſchichte der
Style, wie er den Haupt-Epochen des Ideals entſpricht, den Unterſchied
dieſer Standpunkte wiederkehren ſehen. Die empfindende Phantaſie wirkt
objectiv, der bildenden ähnlich, als einfache religiöſe Muſik, ſubjectiv-
objectiv, der dichtenden ähnlich, als Oratorium (Epos) und Oper (Drama);
in geſchichtlicher Beziehung erſcheint die alte Muſik, wo der Rhythmus
vorherrſcht, bildend oder plaſtiſch, die Herrſchaft der Harmonie in der
neueren ächt muſikaliſch, dem Maleriſchen verwandter. Auf die weiteren
Verbindungen in den Unterarten können wir nicht eingehen, ſondern nur
andeuten, wie z. B. die dichtende Phantaſie da, wo ſie die empfindende
in ſich wiederholt, wieder innerhalb dieſes Bodens den Standpunkt der
bildenden in der Romanze und Ballade, in anderem Sinn in der Hymne
und Ode, den der dramatiſch dichtenden in den bewegten dialogiſchen
Balladen hervortreten läßt, den der rein ſubjectiven Empfindung aber
dem Liede vorbehält, ferner wie z. B. die ſogenannte hiſtoriſche Landſchaft
plaſtiſch, die individuelle, localere ächt maleriſch, oder wenn man will,
mehr muſikaliſch, mehr dichteriſch iſt.

§. 405.

In der dichtenden Phantaſie tritt vermöge der Innerlichkeit ihrer ganzen
Geſtaltung, unbeſchadet der Grund-Einheit von Idee und Bild im Ganzen
des äſthetiſchen Körpers, eine relative Trennbarkeit dieſer Elemente ein: ſie
kann als vergleichende auch eine fremde Idee in ein fremdes Bild legen.

Hier wird zum erſtenmal von einem Verfahren der Phantaſie die
Rede, das ſonſt in ſeinen verſchiedenen Formen ſchon in die allgemeine
Lehre von dieſem Organe des Schönen aufgenommen zu werden pflegt.

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[383/0097] dend, ſo daß die architektoniſche Art das ruhende Götterbild, die maleriſche Art das menſchliche Genre und die bewegte handelnde Gruppe zum Ge- genſtand hat, oder hiſtoriſche Style begründend als eine Weiſe, alle Zweige zu behandeln, wie ſolche in der Geſchichte der Plaſtik ſich zeigen wird. Die maleriſche Phantaſie kann in mancherlei Sinn die plaſtiſche, die em- pfindende, die dichtende in ſich aufnehmen, ebenfalls noch abgeſehen von Verletzungen ihres Weſens. Plaſtiſch verfährt ſie theils überhaupt, wenn die Zeichnung vorwiegt, theils wenn ſie das, ihr zwar fremdere, Gebiet der von bruchloſem Seelenleben ruhig erfüllten Geſtalt anbaut, muſikaliſch in der Landſchaft, in allen Werken, wo in der höchſten Magie des Hell- dunkels, des Licht- und Farbenſcheins die Bedeutung der Geſtalt zurück- tritt, dichtend in großen, epiſch geordneten Cyklen, in dramatiſch bewegten hiſtoriſchen Stoffen. Auf andere Weiſe werden wir in der Geſchichte der Style, wie er den Haupt-Epochen des Ideals entſpricht, den Unterſchied dieſer Standpunkte wiederkehren ſehen. Die empfindende Phantaſie wirkt objectiv, der bildenden ähnlich, als einfache religiöſe Muſik, ſubjectiv- objectiv, der dichtenden ähnlich, als Oratorium (Epos) und Oper (Drama); in geſchichtlicher Beziehung erſcheint die alte Muſik, wo der Rhythmus vorherrſcht, bildend oder plaſtiſch, die Herrſchaft der Harmonie in der neueren ächt muſikaliſch, dem Maleriſchen verwandter. Auf die weiteren Verbindungen in den Unterarten können wir nicht eingehen, ſondern nur andeuten, wie z. B. die dichtende Phantaſie da, wo ſie die empfindende in ſich wiederholt, wieder innerhalb dieſes Bodens den Standpunkt der bildenden in der Romanze und Ballade, in anderem Sinn in der Hymne und Ode, den der dramatiſch dichtenden in den bewegten dialogiſchen Balladen hervortreten läßt, den der rein ſubjectiven Empfindung aber dem Liede vorbehält, ferner wie z. B. die ſogenannte hiſtoriſche Landſchaft plaſtiſch, die individuelle, localere ächt maleriſch, oder wenn man will, mehr muſikaliſch, mehr dichteriſch iſt. §. 405. In der dichtenden Phantaſie tritt vermöge der Innerlichkeit ihrer ganzen Geſtaltung, unbeſchadet der Grund-Einheit von Idee und Bild im Ganzen des äſthetiſchen Körpers, eine relative Trennbarkeit dieſer Elemente ein: ſie kann als vergleichende auch eine fremde Idee in ein fremdes Bild legen. Hier wird zum erſtenmal von einem Verfahren der Phantaſie die Rede, das ſonſt in ſeinen verſchiedenen Formen ſchon in die allgemeine Lehre von dieſem Organe des Schönen aufgenommen zu werden pflegt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/97>, abgerufen am 26.04.2024.