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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Poesie darum, weil sie vermöge des unmittelbaren, leichteren Flusses,
worin hier das Innere in das Aeußere übergeht, am frühesten hervor-
treten, keineswegs auch am frühesten eine Reife der Ausbildung erhalten,
durch die sie zum adäquetesten Ausdruck des Kunstlebens einer Zeit sich
erheben; es leuchtet schon vor der näheren Nachweisung ein, daß die
Künste, die im greiflichen Stoffe darstellen, die vorzugsweise entsprechende
Form gewesen sein müssen für die Phantasie der Völker des Alterthums,
die wir als wesentlich objectiv bestimmte, anschauende, auf das Auge ge-
stellte (vergl. 404 Anm. a. und 425, 3.) aufgewiesen haben. Es hat
also trotz der längeren Uebung, welche die bildende Kunst voraussetzt und
deren Nothwendigkeit noch besonders hervorzuheben ist, früher eine Bau-
kunst u. s. w. gegeben, welche der Kunstgeschichte angehört, als eine Musik
und Poesie. Dieser Punct ist übrigens noch an andern Stellen zu be-
leuchten. -- Die bildende Phantasie ergreift denn als thätige Kunst körper-
lich ausgedehnten, schweren Stoff und verarbeitet ihn so, daß ihm die
schöne Form, wie sie vor der Phantasie des Künstlers auf Grund äußerer
Gesichtsanschauungen als Object eines innern Sehens schwebt, als ein
geistiger Mantel übergelegt wird. Dieser Stoff ist todt (§. 490) in dem
engeren Sinne, daß die unorganische oder abgestorbene organische Masse
auch durch die Thätigkeit des Künstlers keine wirkliche, in ein ebenfalls
bewegtes inneres Bild unmittelbar übergehende Bewegung erhält. Das
fertige Werk ist zunächst im eigentlichen Sinne bewegungslos und stumm;
die bildende Kunst muß Angesichts des Satzes, daß die Kunstthätigkeit im
Ganzen und Großen von Stufe zu Stufe die am meisten sprechende Form
sucht (§. 533 Anm. 1.), mit ihren Vorzügen sogleich ihre Mängel enthüllen.
In einem gewissen Sinne freilich muß sie sprechend sein, in dem Sinne
nämlich, daß sie überhaupt eine Idee in lebendiger Form ausdrückt, und
diesen die Phantasie des Zuschauers mittelbar in Schwingung versetzenden Aus-
druck versteht der §. unter Sprache, wenn er sagt, daß das todte Werk in der
Anschauung zu Bewegung und Sprache erwache (vergl. §. 489,1.); handelt
es sich aber von Bewegung und Sprache (oder Ton) im eigentlichen Sinn,
so fehlen diese dem Werke der bildenden Kunst. Nehmen wir nun die drei
Momente zusammen: den Künstler, in welchem ein Phantasiebild innerlich lebt,
das Werk, welches körperlich, bewegungslos, stumm hingestellt ist in den
Raum, den Zuschauer, in dessen Anschauung es auflebt, aufthaut, so haben
wir einen Prozeß, der wohl zu merken ist, um den tiefen Unterschied zu
verstehen, der sich im Prozesse der Musik und Poesie nachher herausstellen
wird: es ist eine Bewegung in zwei Tempi, deren erstes das Hinstellen
des Objects im Raum, deren zweites das Hinüberspringen des Objects
in den Zuschauer ist; die Kugel fliegt hier nicht direct, es ist ein getheilter
Act wie der aufschlagende Schuß wie Unterschied vom wagrechten, nur

Poeſie darum, weil ſie vermöge des unmittelbaren, leichteren Fluſſes,
worin hier das Innere in das Aeußere übergeht, am früheſten hervor-
treten, keineswegs auch am früheſten eine Reife der Ausbildung erhalten,
durch die ſie zum adäqueteſten Ausdruck des Kunſtlebens einer Zeit ſich
erheben; es leuchtet ſchon vor der näheren Nachweiſung ein, daß die
Künſte, die im greiflichen Stoffe darſtellen, die vorzugsweiſe entſprechende
Form geweſen ſein müſſen für die Phantaſie der Völker des Alterthums,
die wir als weſentlich objectiv beſtimmte, anſchauende, auf das Auge ge-
ſtellte (vergl. 404 Anm. a. und 425, 3.) aufgewieſen haben. Es hat
alſo trotz der längeren Uebung, welche die bildende Kunſt vorausſetzt und
deren Nothwendigkeit noch beſonders hervorzuheben iſt, früher eine Bau-
kunſt u. ſ. w. gegeben, welche der Kunſtgeſchichte angehört, als eine Muſik
und Poeſie. Dieſer Punct iſt übrigens noch an andern Stellen zu be-
leuchten. — Die bildende Phantaſie ergreift denn als thätige Kunſt körper-
lich ausgedehnten, ſchweren Stoff und verarbeitet ihn ſo, daß ihm die
ſchöne Form, wie ſie vor der Phantaſie des Künſtlers auf Grund äußerer
Geſichtsanſchauungen als Object eines innern Sehens ſchwebt, als ein
geiſtiger Mantel übergelegt wird. Dieſer Stoff iſt todt (§. 490) in dem
engeren Sinne, daß die unorganiſche oder abgeſtorbene organiſche Maſſe
auch durch die Thätigkeit des Künſtlers keine wirkliche, in ein ebenfalls
bewegtes inneres Bild unmittelbar übergehende Bewegung erhält. Das
fertige Werk iſt zunächſt im eigentlichen Sinne bewegungslos und ſtumm;
die bildende Kunſt muß Angeſichts des Satzes, daß die Kunſtthätigkeit im
Ganzen und Großen von Stufe zu Stufe die am meiſten ſprechende Form
ſucht (§. 533 Anm. 1.), mit ihren Vorzügen ſogleich ihre Mängel enthüllen.
In einem gewiſſen Sinne freilich muß ſie ſprechend ſein, in dem Sinne
nämlich, daß ſie überhaupt eine Idee in lebendiger Form ausdrückt, und
dieſen die Phantaſie des Zuſchauers mittelbar in Schwingung verſetzenden Aus-
druck verſteht der §. unter Sprache, wenn er ſagt, daß das todte Werk in der
Anſchauung zu Bewegung und Sprache erwache (vergl. §. 489,1.); handelt
es ſich aber von Bewegung und Sprache (oder Ton) im eigentlichen Sinn,
ſo fehlen dieſe dem Werke der bildenden Kunſt. Nehmen wir nun die drei
Momente zuſammen: den Künſtler, in welchem ein Phantaſiebild innerlich lebt,
das Werk, welches körperlich, bewegungslos, ſtumm hingeſtellt iſt in den
Raum, den Zuſchauer, in deſſen Anſchauung es auflebt, aufthaut, ſo haben
wir einen Prozeß, der wohl zu merken iſt, um den tiefen Unterſchied zu
verſtehen, der ſich im Prozeſſe der Muſik und Poeſie nachher herausſtellen
wird: es iſt eine Bewegung in zwei Tempi, deren erſtes das Hinſtellen
des Objects im Raum, deren zweites das Hinüberſpringen des Objects
in den Zuſchauer iſt; die Kugel fliegt hier nicht direct, es iſt ein getheilter
Act wie der aufſchlagende Schuß wie Unterſchied vom wagrechten, nur

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[174/0014] Poeſie darum, weil ſie vermöge des unmittelbaren, leichteren Fluſſes, worin hier das Innere in das Aeußere übergeht, am früheſten hervor- treten, keineswegs auch am früheſten eine Reife der Ausbildung erhalten, durch die ſie zum adäqueteſten Ausdruck des Kunſtlebens einer Zeit ſich erheben; es leuchtet ſchon vor der näheren Nachweiſung ein, daß die Künſte, die im greiflichen Stoffe darſtellen, die vorzugsweiſe entſprechende Form geweſen ſein müſſen für die Phantaſie der Völker des Alterthums, die wir als weſentlich objectiv beſtimmte, anſchauende, auf das Auge ge- ſtellte (vergl. 404 Anm. a. und 425, 3.) aufgewieſen haben. Es hat alſo trotz der längeren Uebung, welche die bildende Kunſt vorausſetzt und deren Nothwendigkeit noch beſonders hervorzuheben iſt, früher eine Bau- kunſt u. ſ. w. gegeben, welche der Kunſtgeſchichte angehört, als eine Muſik und Poeſie. Dieſer Punct iſt übrigens noch an andern Stellen zu be- leuchten. — Die bildende Phantaſie ergreift denn als thätige Kunſt körper- lich ausgedehnten, ſchweren Stoff und verarbeitet ihn ſo, daß ihm die ſchöne Form, wie ſie vor der Phantaſie des Künſtlers auf Grund äußerer Geſichtsanſchauungen als Object eines innern Sehens ſchwebt, als ein geiſtiger Mantel übergelegt wird. Dieſer Stoff iſt todt (§. 490) in dem engeren Sinne, daß die unorganiſche oder abgeſtorbene organiſche Maſſe auch durch die Thätigkeit des Künſtlers keine wirkliche, in ein ebenfalls bewegtes inneres Bild unmittelbar übergehende Bewegung erhält. Das fertige Werk iſt zunächſt im eigentlichen Sinne bewegungslos und ſtumm; die bildende Kunſt muß Angeſichts des Satzes, daß die Kunſtthätigkeit im Ganzen und Großen von Stufe zu Stufe die am meiſten ſprechende Form ſucht (§. 533 Anm. 1.), mit ihren Vorzügen ſogleich ihre Mängel enthüllen. In einem gewiſſen Sinne freilich muß ſie ſprechend ſein, in dem Sinne nämlich, daß ſie überhaupt eine Idee in lebendiger Form ausdrückt, und dieſen die Phantaſie des Zuſchauers mittelbar in Schwingung verſetzenden Aus- druck verſteht der §. unter Sprache, wenn er ſagt, daß das todte Werk in der Anſchauung zu Bewegung und Sprache erwache (vergl. §. 489,1.); handelt es ſich aber von Bewegung und Sprache (oder Ton) im eigentlichen Sinn, ſo fehlen dieſe dem Werke der bildenden Kunſt. Nehmen wir nun die drei Momente zuſammen: den Künſtler, in welchem ein Phantaſiebild innerlich lebt, das Werk, welches körperlich, bewegungslos, ſtumm hingeſtellt iſt in den Raum, den Zuſchauer, in deſſen Anſchauung es auflebt, aufthaut, ſo haben wir einen Prozeß, der wohl zu merken iſt, um den tiefen Unterſchied zu verſtehen, der ſich im Prozeſſe der Muſik und Poeſie nachher herausſtellen wird: es iſt eine Bewegung in zwei Tempi, deren erſtes das Hinſtellen des Objects im Raum, deren zweites das Hinüberſpringen des Objects in den Zuſchauer iſt; die Kugel fliegt hier nicht direct, es iſt ein getheilter Act wie der aufſchlagende Schuß wie Unterſchied vom wagrechten, nur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/14>, abgerufen am 26.04.2024.