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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Marken seiner Besinnung für sich heraus als das Element, worin sie
idealisirend bildet und tiefe Bedeutung symbolisch niederlegt. Hier, in
diesem Gebiete der abstracten Linie, kann der Rhythmus nicht ein freies
Spiel des Ungleichen unberechenbar beherrschen, sondern er muß sich
vorerst ganz abstract so äußern, daß er das Ungleiche selbst gleich macht,
d. h. daß Solches, was von einem Mittelpuncte mehrzählig ausstrahlt,
diesem zwar ungleich, aber untereinander gleich ist, und dieß eben ist
die Symmetrie. Shakespears Lear z. B. führt zwei Fabeln nebeneinander
her, sie sind sich ähnlich, aber nicht gleich, die Handlung der einen folgt
der andern mit raschen Schritten, doch bleibt sie auch zurück, um sie
wieder einzuholen u. s. w.; im Bauwerke dagegen müssen zwei Haupt-
theile, die parallel sich gegenüberstehen, einander ganz gleich sein an
Maaßen, Zahl ihrer Einzeltheile u. s. f. Ueberall wo das Starre erst
in dieser allgemeinsten Weise gestaltet wird, muß diese gemessene Bin-
dung und gezählte Gleichseitigkeit herrschen, nicht nur in der höhern Archi-
tektur, sondern in aller Tektonik (vergl. Schleiermacher Aesth. S. 443. ff.).
Daß hiedurch die Proportion erst ihren bestimmten Inhalt bekommt, ist
zu §. 567 bemerkt. Es sind nun die verschiedenen Arten der Symmetrie
bestimmter zu unterscheiden. Die erste, abstracteste Form ist die Gleich-
heit von zwei Seiten nach Linie, Maaß, Zahl und Form einzelner selbst-
ständiger Theile, wie Fenster, Säulen u. s. w., die sich ergibt, wenn man
durch ein (schlechthin oder relativ) Ganzes als theilenden Mittelpunct eine
nur gedachte Linie zieht. Schneidet diese ideale Linie der Länge nach
durch die Mitte eines reicher gegliederten Baus oder senkrecht durch ein-
zelne Theile, woran runde oder geneigte Linien vorkommen, wie bei
Portalen, Säulen, gewölbten Fenstern, Dachgiebeln, so tritt der in
§. 265 hervorgehobene Fall ein, daß die beiden Seiten das umgedrehte
Gegenbild von einander darstellen. Aber nicht beliebig nach verschiedenen
Richtungen kann man eine solche theilende Linie als Mittelpunct für gleiche
Seiten ziehen; solche fallen nicht ab, wenn man die Mitte eines Oblongums
quer von oben durchschneidet: selbst im griechischen Tempel kann nach außen
die Vorhalle reicher gegliedert sein, als die Hinterhalle, und im Innern
begründet die Stelle des Götterbildes, das geschlossene Gemach an der
Hinterseite der Celle eine Ungleichheit; die gothische Kirche aber zerfällt
so in zwei Seiten von noch viel auffallenderer Ungleichheit. Ebensowenig
entsteht, wenn man in der Breite durchschneidet, eine Symmetrie des
Obern und Untern. Dieß ist eben ein Beweis, daß die Symmetrie
nicht Alles ist; sie kann das aus tieferer Quelle Gegliederte nur in Einer
Richtung durch ihr Taktgesetz beherrschen. Die reichere Form der Sym-
metrie nun entsteht, wenn der herrschende Mittelpunct als besondere Form
sichtbar hervortritt, wie im Bau des Mittelalters an der Facade das

Marken ſeiner Beſinnung für ſich heraus als das Element, worin ſie
idealiſirend bildet und tiefe Bedeutung ſymboliſch niederlegt. Hier, in
dieſem Gebiete der abſtracten Linie, kann der Rhythmus nicht ein freies
Spiel des Ungleichen unberechenbar beherrſchen, ſondern er muß ſich
vorerſt ganz abſtract ſo äußern, daß er das Ungleiche ſelbſt gleich macht,
d. h. daß Solches, was von einem Mittelpuncte mehrzählig ausſtrahlt,
dieſem zwar ungleich, aber untereinander gleich iſt, und dieß eben iſt
die Symmetrie. Shakespears Lear z. B. führt zwei Fabeln nebeneinander
her, ſie ſind ſich ähnlich, aber nicht gleich, die Handlung der einen folgt
der andern mit raſchen Schritten, doch bleibt ſie auch zurück, um ſie
wieder einzuholen u. ſ. w.; im Bauwerke dagegen müſſen zwei Haupt-
theile, die parallel ſich gegenüberſtehen, einander ganz gleich ſein an
Maaßen, Zahl ihrer Einzeltheile u. ſ. f. Ueberall wo das Starre erſt
in dieſer allgemeinſten Weiſe geſtaltet wird, muß dieſe gemeſſene Bin-
dung und gezählte Gleichſeitigkeit herrſchen, nicht nur in der höhern Archi-
tektur, ſondern in aller Tektonik (vergl. Schleiermacher Aeſth. S. 443. ff.).
Daß hiedurch die Proportion erſt ihren beſtimmten Inhalt bekommt, iſt
zu §. 567 bemerkt. Es ſind nun die verſchiedenen Arten der Symmetrie
beſtimmter zu unterſcheiden. Die erſte, abſtracteſte Form iſt die Gleich-
heit von zwei Seiten nach Linie, Maaß, Zahl und Form einzelner ſelbſt-
ſtändiger Theile, wie Fenſter, Säulen u. ſ. w., die ſich ergibt, wenn man
durch ein (ſchlechthin oder relativ) Ganzes als theilenden Mittelpunct eine
nur gedachte Linie zieht. Schneidet dieſe ideale Linie der Länge nach
durch die Mitte eines reicher gegliederten Baus oder ſenkrecht durch ein-
zelne Theile, woran runde oder geneigte Linien vorkommen, wie bei
Portalen, Säulen, gewölbten Fenſtern, Dachgiebeln, ſo tritt der in
§. 265 hervorgehobene Fall ein, daß die beiden Seiten das umgedrehte
Gegenbild von einander darſtellen. Aber nicht beliebig nach verſchiedenen
Richtungen kann man eine ſolche theilende Linie als Mittelpunct für gleiche
Seiten ziehen; ſolche fallen nicht ab, wenn man die Mitte eines Oblongums
quer von oben durchſchneidet: ſelbſt im griechiſchen Tempel kann nach außen
die Vorhalle reicher gegliedert ſein, als die Hinterhalle, und im Innern
begründet die Stelle des Götterbildes, das geſchloſſene Gemach an der
Hinterſeite der Celle eine Ungleichheit; die gothiſche Kirche aber zerfällt
ſo in zwei Seiten von noch viel auffallenderer Ungleichheit. Ebenſowenig
entſteht, wenn man in der Breite durchſchneidet, eine Symmetrie des
Obern und Untern. Dieß iſt eben ein Beweis, daß die Symmetrie
nicht Alles iſt; ſie kann das aus tieferer Quelle Gegliederte nur in Einer
Richtung durch ihr Taktgeſetz beherrſchen. Die reichere Form der Sym-
metrie nun entſteht, wenn der herrſchende Mittelpunct als beſondere Form
ſichtbar hervortritt, wie im Bau des Mittelalters an der Façade das

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[233/0073] Marken ſeiner Beſinnung für ſich heraus als das Element, worin ſie idealiſirend bildet und tiefe Bedeutung ſymboliſch niederlegt. Hier, in dieſem Gebiete der abſtracten Linie, kann der Rhythmus nicht ein freies Spiel des Ungleichen unberechenbar beherrſchen, ſondern er muß ſich vorerſt ganz abſtract ſo äußern, daß er das Ungleiche ſelbſt gleich macht, d. h. daß Solches, was von einem Mittelpuncte mehrzählig ausſtrahlt, dieſem zwar ungleich, aber untereinander gleich iſt, und dieß eben iſt die Symmetrie. Shakespears Lear z. B. führt zwei Fabeln nebeneinander her, ſie ſind ſich ähnlich, aber nicht gleich, die Handlung der einen folgt der andern mit raſchen Schritten, doch bleibt ſie auch zurück, um ſie wieder einzuholen u. ſ. w.; im Bauwerke dagegen müſſen zwei Haupt- theile, die parallel ſich gegenüberſtehen, einander ganz gleich ſein an Maaßen, Zahl ihrer Einzeltheile u. ſ. f. Ueberall wo das Starre erſt in dieſer allgemeinſten Weiſe geſtaltet wird, muß dieſe gemeſſene Bin- dung und gezählte Gleichſeitigkeit herrſchen, nicht nur in der höhern Archi- tektur, ſondern in aller Tektonik (vergl. Schleiermacher Aeſth. S. 443. ff.). Daß hiedurch die Proportion erſt ihren beſtimmten Inhalt bekommt, iſt zu §. 567 bemerkt. Es ſind nun die verſchiedenen Arten der Symmetrie beſtimmter zu unterſcheiden. Die erſte, abſtracteſte Form iſt die Gleich- heit von zwei Seiten nach Linie, Maaß, Zahl und Form einzelner ſelbſt- ſtändiger Theile, wie Fenſter, Säulen u. ſ. w., die ſich ergibt, wenn man durch ein (ſchlechthin oder relativ) Ganzes als theilenden Mittelpunct eine nur gedachte Linie zieht. Schneidet dieſe ideale Linie der Länge nach durch die Mitte eines reicher gegliederten Baus oder ſenkrecht durch ein- zelne Theile, woran runde oder geneigte Linien vorkommen, wie bei Portalen, Säulen, gewölbten Fenſtern, Dachgiebeln, ſo tritt der in §. 265 hervorgehobene Fall ein, daß die beiden Seiten das umgedrehte Gegenbild von einander darſtellen. Aber nicht beliebig nach verſchiedenen Richtungen kann man eine ſolche theilende Linie als Mittelpunct für gleiche Seiten ziehen; ſolche fallen nicht ab, wenn man die Mitte eines Oblongums quer von oben durchſchneidet: ſelbſt im griechiſchen Tempel kann nach außen die Vorhalle reicher gegliedert ſein, als die Hinterhalle, und im Innern begründet die Stelle des Götterbildes, das geſchloſſene Gemach an der Hinterſeite der Celle eine Ungleichheit; die gothiſche Kirche aber zerfällt ſo in zwei Seiten von noch viel auffallenderer Ungleichheit. Ebenſowenig entſteht, wenn man in der Breite durchſchneidet, eine Symmetrie des Obern und Untern. Dieß iſt eben ein Beweis, daß die Symmetrie nicht Alles iſt; ſie kann das aus tieferer Quelle Gegliederte nur in Einer Richtung durch ihr Taktgeſetz beherrſchen. Die reichere Form der Sym- metrie nun entſteht, wenn der herrſchende Mittelpunct als beſondere Form ſichtbar hervortritt, wie im Bau des Mittelalters an der Façade das

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/73>, abgerufen am 26.04.2024.