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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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die Kraft, der Kraft die Weichheit, der geometrisch strengen Gemessenheit
fehlen beide. Soll wahre Kunst entstehen, so muß Ein Volk diese Rich-
tungen in natürlicher Folge ausbilden und dann vereinigen: mit dem fe-
sten Maaße beginnen, die kräftige Bestimmtheit der einzelnen Formen hin-
zufügen und endlich Alles mit Weichheit überkleiden, so, daß alle diese
Momente zu einem concreten Ganzen zusammentreten, aus dessen reifer
Fülle der geistige Ausdruck auftauchen kann.

§. 639.

Die griechische Phantasie war eine so entschieden plastische, daß die
Darstellung des Wesens der Bildnerkunst mit der Darstellung seiner geschichtli-
chen Erscheinung bei dem griechischen Volk in einer Weise zusammenfällt, welche
der Zukunft fast keinen weiteren Entwicklungsstoff übrig ließ. Die griechische
Plastik wägt dem Ideale so viel Individualismus und Naturalismus zu, als
es erträgt, vereinigt Würde und Anmuth und unterscheidet deutlich zwei Kreise,
einen göttlichen und einen menschlichen, die aber lebendig ineinander übergehen.

Was sich in der ganzen Lehre von der Bildnerkunst auf jedem
Schritte aufgedrängt hat, ist hier endlich ausdrücklich herausgestellt. Man
vergleiche, was vom Leben der Griechen §. 348 -- 351 gesagt ist, und
fasse dann diese reale Grundlage mit der ganzen Darstellung des classi-
schen Ideals der griechischen Phantasie §. 434 ff. zusammen, so erscheint
die nun entwickelte Lehre vom Wesen der Bildnerkunst nur wie eine Ueber-
setzung jener auf so absolut günstiger Grundlage aufgeblühten Weltanschauung
der Griechen in eine wirkliche Kunstform, oder umgekehrt der Begriff die-
ser Kunstform mußte bei jenem so beschaffenen, so anschauenden Volke
seine wahre Wirklichkeit finden. Der wahre Fortschritt vom Symbole
zum Mythus, der dem Menschen vertraute, auf Grundlage einer Natur-
bedeutung ein höchstes Sittliches in sich lebendig darstellende Gott, der
Kreis der Götter-Individuen, die Genien- und Heroenwelt, wodurch
sich dieser Kreis leicht und flüssig an die ursprüngliche Stoffwelt knüpft,
die frei ästhetische Ueberwindung des Typus, die nun erst wahrhaft im
Gebiete der menschlichen Schönheit heimische Idealbildende Phantasie, das
Gesetz, daß hier die einzelne Gestalt schön sein muß, das sich
(§. 437) zunächst allgemein aus dem ächt mythischen Standpuncte
ergab, die musterhafte Einheit von Inhalt und Form, wie sie schon
dem innern Bilden eines solchen Volkes eigen sein mußte: alles dieß be-
gründete uns die Bestimmtheit dieser Phantasie als einer tastend se-
henden (§. 439), wodurch bereits das Gesetz, daß in diesem Ideale die
einzelne Gestalt schön sein muß, seine nähere, doch erst psychologische Be-

die Kraft, der Kraft die Weichheit, der geometriſch ſtrengen Gemeſſenheit
fehlen beide. Soll wahre Kunſt entſtehen, ſo muß Ein Volk dieſe Rich-
tungen in natürlicher Folge ausbilden und dann vereinigen: mit dem fe-
ſten Maaße beginnen, die kräftige Beſtimmtheit der einzelnen Formen hin-
zufügen und endlich Alles mit Weichheit überkleiden, ſo, daß alle dieſe
Momente zu einem concreten Ganzen zuſammentreten, aus deſſen reifer
Fülle der geiſtige Ausdruck auftauchen kann.

§. 639.

Die griechiſche Phantaſie war eine ſo entſchieden plaſtiſche, daß die
Darſtellung des Weſens der Bildnerkunſt mit der Darſtellung ſeiner geſchichtli-
chen Erſcheinung bei dem griechiſchen Volk in einer Weiſe zuſammenfällt, welche
der Zukunft faſt keinen weiteren Entwicklungsſtoff übrig ließ. Die griechiſche
Plaſtik wägt dem Ideale ſo viel Individualiſmus und Naturaliſmus zu, als
es erträgt, vereinigt Würde und Anmuth und unterſcheidet deutlich zwei Kreiſe,
einen göttlichen und einen menſchlichen, die aber lebendig ineinander übergehen.

Was ſich in der ganzen Lehre von der Bildnerkunſt auf jedem
Schritte aufgedrängt hat, iſt hier endlich ausdrücklich herausgeſtellt. Man
vergleiche, was vom Leben der Griechen §. 348 — 351 geſagt iſt, und
faſſe dann dieſe reale Grundlage mit der ganzen Darſtellung des claſſi-
ſchen Ideals der griechiſchen Phantaſie §. 434 ff. zuſammen, ſo erſcheint
die nun entwickelte Lehre vom Weſen der Bildnerkunſt nur wie eine Ueber-
ſetzung jener auf ſo abſolut günſtiger Grundlage aufgeblühten Weltanſchauung
der Griechen in eine wirkliche Kunſtform, oder umgekehrt der Begriff die-
ſer Kunſtform mußte bei jenem ſo beſchaffenen, ſo anſchauenden Volke
ſeine wahre Wirklichkeit finden. Der wahre Fortſchritt vom Symbole
zum Mythus, der dem Menſchen vertraute, auf Grundlage einer Natur-
bedeutung ein höchſtes Sittliches in ſich lebendig darſtellende Gott, der
Kreis der Götter-Individuen, die Genien- und Heroenwelt, wodurch
ſich dieſer Kreis leicht und flüſſig an die urſprüngliche Stoffwelt knüpft,
die frei äſthetiſche Ueberwindung des Typus, die nun erſt wahrhaft im
Gebiete der menſchlichen Schönheit heimiſche Idealbildende Phantaſie, das
Geſetz, daß hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, das ſich
(§. 437) zunächſt allgemein aus dem ächt mythiſchen Standpuncte
ergab, die muſterhafte Einheit von Inhalt und Form, wie ſie ſchon
dem innern Bilden eines ſolchen Volkes eigen ſein mußte: alles dieß be-
gründete uns die Beſtimmtheit dieſer Phantaſie als einer taſtend ſe-
henden (§. 439), wodurch bereits das Geſetz, daß in dieſem Ideale die
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[475/0149] die Kraft, der Kraft die Weichheit, der geometriſch ſtrengen Gemeſſenheit fehlen beide. Soll wahre Kunſt entſtehen, ſo muß Ein Volk dieſe Rich- tungen in natürlicher Folge ausbilden und dann vereinigen: mit dem fe- ſten Maaße beginnen, die kräftige Beſtimmtheit der einzelnen Formen hin- zufügen und endlich Alles mit Weichheit überkleiden, ſo, daß alle dieſe Momente zu einem concreten Ganzen zuſammentreten, aus deſſen reifer Fülle der geiſtige Ausdruck auftauchen kann. §. 639. Die griechiſche Phantaſie war eine ſo entſchieden plaſtiſche, daß die Darſtellung des Weſens der Bildnerkunſt mit der Darſtellung ſeiner geſchichtli- chen Erſcheinung bei dem griechiſchen Volk in einer Weiſe zuſammenfällt, welche der Zukunft faſt keinen weiteren Entwicklungsſtoff übrig ließ. Die griechiſche Plaſtik wägt dem Ideale ſo viel Individualiſmus und Naturaliſmus zu, als es erträgt, vereinigt Würde und Anmuth und unterſcheidet deutlich zwei Kreiſe, einen göttlichen und einen menſchlichen, die aber lebendig ineinander übergehen. Was ſich in der ganzen Lehre von der Bildnerkunſt auf jedem Schritte aufgedrängt hat, iſt hier endlich ausdrücklich herausgeſtellt. Man vergleiche, was vom Leben der Griechen §. 348 — 351 geſagt iſt, und faſſe dann dieſe reale Grundlage mit der ganzen Darſtellung des claſſi- ſchen Ideals der griechiſchen Phantaſie §. 434 ff. zuſammen, ſo erſcheint die nun entwickelte Lehre vom Weſen der Bildnerkunſt nur wie eine Ueber- ſetzung jener auf ſo abſolut günſtiger Grundlage aufgeblühten Weltanſchauung der Griechen in eine wirkliche Kunſtform, oder umgekehrt der Begriff die- ſer Kunſtform mußte bei jenem ſo beſchaffenen, ſo anſchauenden Volke ſeine wahre Wirklichkeit finden. Der wahre Fortſchritt vom Symbole zum Mythus, der dem Menſchen vertraute, auf Grundlage einer Natur- bedeutung ein höchſtes Sittliches in ſich lebendig darſtellende Gott, der Kreis der Götter-Individuen, die Genien- und Heroenwelt, wodurch ſich dieſer Kreis leicht und flüſſig an die urſprüngliche Stoffwelt knüpft, die frei äſthetiſche Ueberwindung des Typus, die nun erſt wahrhaft im Gebiete der menſchlichen Schönheit heimiſche Idealbildende Phantaſie, das Geſetz, daß hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, das ſich (§. 437) zunächſt allgemein aus dem ächt mythiſchen Standpuncte ergab, die muſterhafte Einheit von Inhalt und Form, wie ſie ſchon dem innern Bilden eines ſolchen Volkes eigen ſein mußte: alles dieß be- gründete uns die Beſtimmtheit dieſer Phantaſie als einer taſtend ſe- henden (§. 439), wodurch bereits das Geſetz, daß in dieſem Ideale die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, ſeine nähere, doch erſt pſychologiſche Be-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/149>, abgerufen am 26.04.2024.