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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Größe eintritt. Die Verhältnisse des Bauwerks, weil sie nicht Nachbil-
dungen der organischen Schönheit sind, wirken in einer Entfernung des
Zuschauers, in welcher organische Formen längst seinem Auge wahrnehm-
bar zu sein aufhören; steigt nun ein Bildwerk zu einer Größe hinan
wie Bauwerke, so findet er gar keinen Standpunct, seine Formen zu er-
fassen, denn in der Nähe überschaut er sie nicht als Ganzes und in der
Ferne zerfließt ihm das Einzelne. Der Orient und die spätere griechische
Kunst in den Sonnencolossen von Rhodus, namentlich dem größten von
70 griech. Ellen, die römische im Colosse des Nero von 110 F.
haben in prunkender Ausschweifung diese Grenze überschritten.

§. 610.

Der Umfang des Darstellbaren, zunächst nach der allgemeinen
Sphäre des Stoffs betrachtet, faßt außer dem menschlichen Leben auch das
thierische in sich, dessen edlere Arten zu dem Gediegenen und Ungetheilten
des menschlichen Daseins, wie es die Plastik zu erfassen hat, sich wie vorbil-
dende Typen verhalten. Freundliche oder feindliche Zusammenstellung des
Thiers mit dem Menschen setzt durch den der unmittelbaren Vergleichung ge-
gebenen Maaßstab den Unterschied der Kräfte und Formen in gesteigertes
Licht.

Der §. geht zu einer neuen Seite über, die aber auch unter den Be-
griff der äußern Bestimmtheit gehört, wie solcher relativ von dem Begriffe
der innern zu trennen ist: zu der Frage nach dem Umfange des Stoffs,
ganz im Allgemeinen, in Beziehung auf die Sphären des Naturschönen
gefaßt. Die Landschaft ist (§. 599) weggefallen; wir werden jedoch noch
einmal auf sie zurückkommen. Das Thier ist bisher neben der Hauptauf-
gabe der Bildnerkunst, der Darstellung des Menschen, ohne nähere Be-
gründung da und dort als Stoff angedeutet. Es ist zunächst die festge-
gossene Compactheit, die abgerundete Bestimmtheit seiner Gestalt und
Bewegungen, was dieser Kunst der klaren Form unmittelbar zusagen
muß. Wie alle Kunst harmlos nicht unmittelbar auf Gehalt losgeht,
sondern von richtigem Blicke geleitet die Formen ergreift, die ihren Styl-
bedingungen zusagen, so erfreut sich die Plastik an dem Geschwungenen,
Vollen, Runden schon der Linie an sich. Der Kopf einer Taube, Ente, um
ganz anspruchlose Beispiele zu brauchen, ist plastisch schön und lädt zum
Nachbilden im plastischen Sinn ein. Die höheren Säugethiere, die
Vielhufer und Einhufer, die bedeutendsten Pfotenthiere, Katze und Hund,
vereinigen eine Fülle solcher schwungvoller Formen; man sehe nur z. B.
wenn der Löwe oder der stärkere Hund liegt, die schöne Linie der Hinter-
backen, wie sie an der schlanken Einziehung des Kreuzes sich herausschwin-
gen. Am Geschlechte der Schaafe mag den Maler die eigenthümliche

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Größe eintritt. Die Verhältniſſe des Bauwerks, weil ſie nicht Nachbil-
dungen der organiſchen Schönheit ſind, wirken in einer Entfernung des
Zuſchauers, in welcher organiſche Formen längſt ſeinem Auge wahrnehm-
bar zu ſein aufhören; ſteigt nun ein Bildwerk zu einer Größe hinan
wie Bauwerke, ſo findet er gar keinen Standpunct, ſeine Formen zu er-
faſſen, denn in der Nähe überſchaut er ſie nicht als Ganzes und in der
Ferne zerfließt ihm das Einzelne. Der Orient und die ſpätere griechiſche
Kunſt in den Sonnencoloſſen von Rhodus, namentlich dem größten von
70 griech. Ellen, die römiſche im Coloſſe des Nero von 110 F.
haben in prunkender Ausſchweifung dieſe Grenze überſchritten.

§. 610.

Der Umfang des Darſtellbaren, zunächſt nach der allgemeinen
Sphäre des Stoffs betrachtet, faßt außer dem menſchlichen Leben auch das
thieriſche in ſich, deſſen edlere Arten zu dem Gediegenen und Ungetheilten
des menſchlichen Daſeins, wie es die Plaſtik zu erfaſſen hat, ſich wie vorbil-
dende Typen verhalten. Freundliche oder feindliche Zuſammenſtellung des
Thiers mit dem Menſchen ſetzt durch den der unmittelbaren Vergleichung ge-
gebenen Maaßſtab den Unterſchied der Kräfte und Formen in geſteigertes
Licht.

Der §. geht zu einer neuen Seite über, die aber auch unter den Be-
griff der äußern Beſtimmtheit gehört, wie ſolcher relativ von dem Begriffe
der innern zu trennen iſt: zu der Frage nach dem Umfange des Stoffs,
ganz im Allgemeinen, in Beziehung auf die Sphären des Naturſchönen
gefaßt. Die Landſchaft iſt (§. 599) weggefallen; wir werden jedoch noch
einmal auf ſie zurückkommen. Das Thier iſt bisher neben der Hauptauf-
gabe der Bildnerkunſt, der Darſtellung des Menſchen, ohne nähere Be-
gründung da und dort als Stoff angedeutet. Es iſt zunächſt die feſtge-
goſſene Compactheit, die abgerundete Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt und
Bewegungen, was dieſer Kunſt der klaren Form unmittelbar zuſagen
muß. Wie alle Kunſt harmlos nicht unmittelbar auf Gehalt losgeht,
ſondern von richtigem Blicke geleitet die Formen ergreift, die ihren Styl-
bedingungen zuſagen, ſo erfreut ſich die Plaſtik an dem Geſchwungenen,
Vollen, Runden ſchon der Linie an ſich. Der Kopf einer Taube, Ente, um
ganz anſpruchloſe Beiſpiele zu brauchen, iſt plaſtiſch ſchön und lädt zum
Nachbilden im plaſtiſchen Sinn ein. Die höheren Säugethiere, die
Vielhufer und Einhufer, die bedeutendſten Pfotenthiere, Katze und Hund,
vereinigen eine Fülle ſolcher ſchwungvoller Formen; man ſehe nur z. B.
wenn der Löwe oder der ſtärkere Hund liegt, die ſchöne Linie der Hinter-
backen, wie ſie an der ſchlanken Einziehung des Kreuzes ſich herausſchwin-
gen. Am Geſchlechte der Schaafe mag den Maler die eigenthümliche

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[389/0063] Größe eintritt. Die Verhältniſſe des Bauwerks, weil ſie nicht Nachbil- dungen der organiſchen Schönheit ſind, wirken in einer Entfernung des Zuſchauers, in welcher organiſche Formen längſt ſeinem Auge wahrnehm- bar zu ſein aufhören; ſteigt nun ein Bildwerk zu einer Größe hinan wie Bauwerke, ſo findet er gar keinen Standpunct, ſeine Formen zu er- faſſen, denn in der Nähe überſchaut er ſie nicht als Ganzes und in der Ferne zerfließt ihm das Einzelne. Der Orient und die ſpätere griechiſche Kunſt in den Sonnencoloſſen von Rhodus, namentlich dem größten von 70 griech. Ellen, die römiſche im Coloſſe des Nero von 110 F. haben in prunkender Ausſchweifung dieſe Grenze überſchritten. §. 610. Der Umfang des Darſtellbaren, zunächſt nach der allgemeinen Sphäre des Stoffs betrachtet, faßt außer dem menſchlichen Leben auch das thieriſche in ſich, deſſen edlere Arten zu dem Gediegenen und Ungetheilten des menſchlichen Daſeins, wie es die Plaſtik zu erfaſſen hat, ſich wie vorbil- dende Typen verhalten. Freundliche oder feindliche Zuſammenſtellung des Thiers mit dem Menſchen ſetzt durch den der unmittelbaren Vergleichung ge- gebenen Maaßſtab den Unterſchied der Kräfte und Formen in geſteigertes Licht. Der §. geht zu einer neuen Seite über, die aber auch unter den Be- griff der äußern Beſtimmtheit gehört, wie ſolcher relativ von dem Begriffe der innern zu trennen iſt: zu der Frage nach dem Umfange des Stoffs, ganz im Allgemeinen, in Beziehung auf die Sphären des Naturſchönen gefaßt. Die Landſchaft iſt (§. 599) weggefallen; wir werden jedoch noch einmal auf ſie zurückkommen. Das Thier iſt bisher neben der Hauptauf- gabe der Bildnerkunſt, der Darſtellung des Menſchen, ohne nähere Be- gründung da und dort als Stoff angedeutet. Es iſt zunächſt die feſtge- goſſene Compactheit, die abgerundete Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt und Bewegungen, was dieſer Kunſt der klaren Form unmittelbar zuſagen muß. Wie alle Kunſt harmlos nicht unmittelbar auf Gehalt losgeht, ſondern von richtigem Blicke geleitet die Formen ergreift, die ihren Styl- bedingungen zuſagen, ſo erfreut ſich die Plaſtik an dem Geſchwungenen, Vollen, Runden ſchon der Linie an ſich. Der Kopf einer Taube, Ente, um ganz anſpruchloſe Beiſpiele zu brauchen, iſt plaſtiſch ſchön und lädt zum Nachbilden im plaſtiſchen Sinn ein. Die höheren Säugethiere, die Vielhufer und Einhufer, die bedeutendſten Pfotenthiere, Katze und Hund, vereinigen eine Fülle ſolcher ſchwungvoller Formen; man ſehe nur z. B. wenn der Löwe oder der ſtärkere Hund liegt, die ſchöne Linie der Hinter- backen, wie ſie an der ſchlanken Einziehung des Kreuzes ſich herausſchwin- gen. Am Geſchlechte der Schaafe mag den Maler die eigenthümliche 26*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/63>, abgerufen am 26.04.2024.